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Archiv-Artikel

Die Mär vom zweiten Auschwitz

AUFSTAND Vor vierzig Jahren bekannten 374 Frauen im „Stern“: „Wir haben abgetrieben“. Arte zeigt dazu einen flammenden Appell für die Selbstbestimmung der Frau (21.05 Uhr)

Ein Arzt erzählte, emanzipierte Frauen seien psychotherapeutische Fälle

VON DANIELA ZINSER

Es war ein Aufschrei gegen das Schweigen: Im Juni 1971 erklärten 374 Frauen im Magazin Stern: „Wir haben abgetrieben“. Es waren Prominente wie Romy Schneider, Studentinnen, Lehrerinnen, Hausfrauen, sogar Ordensschwestern und andere, die nie abgetrieben hatten, aber als politisches Statement mit- und sich strafbar machten. Bis zu fünf Jahre Haft stand auf Schwangerschaftsabbruch. Es war ein Protest gegen die Entmündigung der Frauen, der in der Folge Hunderttausende auf die Straße trieb, der Beginn der zweiten Welle der Frauenbewegung.

40 Jahre später blickt die Dokumentation „Wir haben abgetrieben – Das Ende des Schweigens“ von Birgit Schulz und Annette Zinkant auf finstere deutsche Zeiten zurück – und mahnt zugleich. Sie wollte auf jeden Fall einen politischen, keinen historischen Film machen, sagt Birgit Schulz, die das Thema bereits in ihrer Dokumentation über Alice Schwarzer aufgegriffen hatte. Koautorin Annette Zinkant hatte gerade ihre Tochter geboren und wollte dagegen auf keinen Fall, dass es ein Pro-Abtreibungs-Film wird. Geworden ist es ein flammender Appell für die Selbstbestimmung, der den Schwangerschaftsabbruch aber nie verharmlost.

Frauen, die damals bei der Aktion im Stern mitgemacht haben, darunter Schauspielerin Senta Berger, Alice Schwarzer, eine Sozialarbeiterin, eine Lehrerin und eine Gesundheitswissenschaftlerin, erzählen unaufgeregt und deshalb umso ergreifender von der Hilflosigkeit, dem völligen Alleingelassen- und Ausgeliefertsein. „Das Schweigen, dieser Begriff fiel immer in den Gesprächen“, sagt Birgit Schulz. Nicht einmal der besten Freundin konnten sich die Frauen anvertrauen. Sie wurden in die Heimlichkeit gezwungen und kriminalisiert.

Eine Frau erzählt aus dem Off, wie sie tagelang eine Stricknadel in sich trug, um das Baby selbst abzutreiben, wie sie später bei einer Ausschabung fast verblutet wäre. Birgit Schulz berichtet von vielen Frauen, die während der Abtreibung beim Arzt vergewaltigt wurden. Dem stehen im Film die Aussagen von Männern gegenüber, die den Frauen vorwerfen, doch nur sorglos Spaß haben zu wollen. Kirchenvertreter sprechen vom zweiten Auschwitz. Diese Originalaufnahmen sind neben den Gesprächsszenen die große Stärke des Films. Unfassbar etwa eine Szene aus der Sendung „Die Frau zwischen Wunschbildern und Wirklichkeit“ vom Mai 1970: Ein Arzt erklärt ungerührt: „Der Beruf bringt Babys um.“ Im Grunde seien alle emanzipierten Frauen „psychotherapeutische Fälle“, nur durch Therapie bekäme ihr „verpfuschtes Leben eine heilsame Wendung“.

Alice Schwarzer mit ihren Kontakten zum Stern brachte die Aktion damals von Frankreich nach Deutschland, organisierte die Frauen, stritt in Talkshows mit Krawattenmännern, ließ sich als Schlampe beschimpfen und bespucken. Es ist beeindruckend und es macht fast wehmütig, sie so zu sehen, wenn man im Hinterkopf ihr Engagement für die Bild-Zeitung im Kachelmann-Prozess hat. Auch Birgit Schulz sieht das skeptisch: „Bild und Feminismus, das passt für mich nicht zusammen.“ Doch ohne Schwarzer hätte es die Aktion vor 40 Jahren nicht gegeben.

Die Frauen von damals, das zeigt der Film sehr kraftvoll, würden heute sofort wieder auf die Straße gehen. Und längst sei nicht alles gut. Man müsse nur mal an die türkischen Frauen denken, die heute in der Lage sind wie die deutschen und französischen damals, sagt Birgit Schulz. Immer noch fehlten emanzipierte Strukturen, doch heute kämpfe jede Frau für sich allein, für Kita-Plätze etwa. So endet die Dokumentation mit dem Aufruf, wachsam zu bleiben, denn alles könne ganz schnell wieder rückwärts gehen. Und gerade das Schweigen berge die Gefahr.