: Anti-Klagenfurt
In ausnehmend freundlicher Arbeitsatmosphäre wurde am Samstag der Alfred-Döblin-Preisträger 2007 gekürt
Die Bundesliga war an diesem vorentscheidenden Samstag im Literarischen Colloquium mindestens so wichtig wie die Literatur. Bevor der neue Alfred-Döblin-Preisträger ausgerufen wurde, musste der fiebernde Teil des Publikums mit anderen Ergebnissen versorgt werden. Mancher Literaturexperte schaute im Lauf des Nachmittags immer wieder verstohlen auf das Display seines Handys und flüsterte dann Neuigkeiten in den Raum. Am Ende war der VfB Stuttgart Tabellenführer, und Michael Kumpfmüller stand als Sieger mit einem Blumenstrauß in der Hand da und sagte: „Was soll ich jetzt sagen. Ich bin gerührt und nehme den Preis an.“
Für die 16. Auflage des von Günter Grass gestifteten und alle zwei Jahre vergebenen Döblin-Preises ist das Procedere wieder einmal verändert worden. Der Preisträger wurde nicht mehr, wie zuletzt, von der Jury bereits im Voraus bestimmt, sondern musste sich in einem finalen Wettlesen vor Lektoren, Kritikern und Autoren durchsetzen. Ein bisschen Gruppe 47 (auch Günter Grass war wie immer dabei und diskutierte mit), ein bisschen Klagenfurt – vor allem aber prägte eine sehr viel freundlichere Arbeitsatmosphäre den Tag. Dass es um 15.000 Euro und um die Verteilung von Ruhm und Ehre ging, konnte man dabei fast vergessen.
Die Jury, die aus der Schriftstellerin Kerstin Hensel, dem Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel und dem Literaturkritiker Lothar Müller bestand, hatte aus insgesamt 454 Bewerbungen sechs Kandidaten für die Endrunde ausgesucht und musste am Ende dann den Sieger bestimmen. Ihre Auswahl war erkennbar von dem Bemühen geprägt, einen repräsentativen Querschnitt durch die deutsche Gegenwartsliteratur zu bieten. Das unterschied diesen Wettbewerb wohltuend vom Bachmannpreis in Klagenfurt: Die Jury bekämpfte sich und ihre Kandidaten nicht gegenseitig, sondern stand gemeinsam für die gesamte Auswahl.
Mit Jenny Erpenbeck bekam der große Geschichtsroman eine Chance. In „Heimsuchung“ erzählt sie die Geschichte eines Hauses in der Nähe von Berlin im Lauf eines Jahrhunderts. Das Kapitel, das sie las, handelt von einem Rotarmisten, der mit seiner Truppe hier einquartiert wird und in einem versteckten Raum einer Frau begegnet. Was zwischen den beiden geschieht, wurde vom Publikum als gezielte „Unverschämtheit“ gedeutet, weil eben nicht das Klischee der Vergewaltigung einer deutschen Frau durch einen Sowjetsoldaten bedient wird. Der Text funktionierte in seiner protokollierenden Klarheit als abgeschlossene Kurzgeschichte. Jenny Erpenbeck wäre sicher auch eine würdige Preisträgerin gewesen.
Patricia Görg erzählte in expressionistisch bemühten Bildern von einem alten, misanthropen Herrn, den sie in einem „Jahreslauf des Geizes“ darstellt – eine Allegorie auf die Geiz-ist-geil-Gesellschaft. Alban Nicolai Herbst vertrat mit einem Auszug aus „Argo. Anderswelt“ die Abteilung Science Fiction, vor allem aber einen in sich geschlossenen Ästhetizismus, der sich an der eigenen Wortbesoffenheit auf über tausend Seiten berauscht. Bruno Preisendörfer variierte mit „Die Vergeltung“ den Genre-Roman. Ein Mann mit Pistole im Hosenbund steigt in eine Taxi, dessen Fahrer Jahre zuvor seine Frau umbrachte. Jetzt will er Rache, aber man ahnt, dass die Begegnung von Täter und Opfer aus Gründen literarischer Gesetzmäßigkeit anders enden muss. Norbert Zähringer schließlich las aus einem Roman, der in Hollywood und in Berlin spielt, dabei von den 20ern über den Zweiten Weltkrieg einen Bogen bis in die Nachwendezeit schlägt und von Film und der Produktion von Fiktionen handelt. Beeindruckend leicht und bruchlos gelingt es ihm, die Realitätsebenen zu wechseln und die Konstruktion von Wirklichkeit erzählerisch vorzuführen.
Dass die Wahl schließlich auf Michael Kumpfmüller fiel, hatte sicher auch mit dessen dezidiert politischem Ansatz zu tun. „Nachricht an alle“ heißt der ausgezeichnete Roman, der im Frühjahr 2008 bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen soll. Im Mittelpunkt steht der Innenminister eines nicht näher bestimmten westeuropäischen Landes, der eine staatspolitische Krise meistern muss. Kumpfmüller will Politik weder als Heldengeschichte noch als Tragödie zeigen, sondern als eine „Komödie des Standhaltens“. Ein Ausgangspunkt waren für ihn die Bonn-Romane von Wolfgang Koeppen aus den 50ern. „Nachricht an alle“ handelt von Politik und von den Ressentiments gegen Politiker, setzt aber diesen Beruf ins Recht, indem er zeigt, dass es sich dabei um ein Handwerk, um Arbeit handelt. Das ist ein so einfacher wie überraschender Ansatz. Man darf auf diesen Roman gespannt sein. JÖRG MAGENAU
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