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Archiv-Artikel

Auf der Suche nach der Glückszahl

LEBEN Wie zufrieden sind die Deutschen? Daniela Kolbe soll es rauskriegen. Sie leitet die Kommission für „Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“

Wirtschaften ohne Wachstum III: In Fuhlenhagen bei Hamburg hat sich der „Buschberghof“ vom Wachstumsdruck befreit. Einmal im Jahr treffen sich seine in einer Selbstversorgergemeinschaft zusammengeschlossenen Kunden, insgesamt rund 300, und schreiben auf, wie viel Geld sie dem Demeterbetrieb für die produzierten Lebensmittel geben. Wer gut verdient, gibt mehr als den monatlichen Richtwert von 150 Euro pro Erwachsenen und 75 Euro pro Kind. Wer knapp dran ist, darf weniger geben.

VON KIRSTEN KÜPPERS

Daniela Kolbe ist Physikerin, 31 Jahre alt und stammt aus einem Dorf in Thüringen. Zurzeit fragt sie sich, ob sich ein gutes Leben mit einer Zahl messen lässt.

Kolbe kommt aus einem jener Orte im Osten, der sich schwertut mit der Zukunft. 200 Menschen wohnen im Dorf, Bauernhöfe umgeben von Raps und Weizen, seit der Wende gibt es keinen Laden mehr, der Bäcker fährt mit einem Wagen an. Die Arbeitslosigkeit in der Gegend ist so hoch, dass vor allem die jungen Frauen aufbrechen, um anderswo ihr Glück zu suchen.

Auch Daniela Kolbe ist geflüchtet, ins Internat nach Jena, 14 war sie da, dann zum Physikstudium nach Leipzig, später zur SPD. Jetzt sitzt Kolbe in einem Abgeordnetenbüro in Berlin und beschäftigt sich als Vorsitzende der Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“ damit, wie zufrieden die Deutschen sind.

„Dass das dritte Handy den Menschen nicht glücklicher macht, das wissen wir ja“, sagt Kolbe.

Im Januar hat die Kommission mit der Arbeit begonnen. Man konnte Daniela Kolbe damals in ihrem Bundestagsbüro besuchen. Ein Büro, das einem Hasenstall gleicht, so klein, wie es ist. Kolbe wirkt unsicher. Eine schmächtige, blasse Person mit eckiger Brille, schwarzer Hose, Turnschuhen. Manchmal schleicht sich ein Zittern in ihre Stimme. Sie sieht nicht unbedingt aus, wie man sich die Vorsitzende einer Enquetekommission vorstellt.

Wenn eine Bundestagskommission der Vermessung von Wohlergehen nachgeht, ist das eine anstrengende Angelegenheit. Kolbe hat sich in Analysen gestürzt, da geht es um Wirtschaft, um Profite, um Wachstumskurven. Sie hat Artikel gelesen, Aufsätze, Studien, Glücks-Ratgeber.

Kolbe spult ihr Wissen herunter, als säße sie in einem Bewerbungsgespräch.

Ihre Nervosität rührt von der Verantwortung her, die auf ihr liegt wie ein Stein. Die SPD-Kollegen haben sie für diesen Posten vorgeschlagen, sie haben sie gewählt. Die Vermessung der Lebensqualität in die Hände einer weitgehend unbekannten, jungen Frau zu legen, ist ein ziemlicher Vertrauensvorschuss.

Kolbe muss jetzt zeigen, dass sie das hinbekommt.

Es hätte wahrscheinlich schlechtere Kandidaten gegeben für den Job. Als Jugendliche hat Kolbe Zeltlager organisiert. Beim Physikstudium hat sie gelernt, dass es die kleinen Teilchen sind, die die großen Prozesse am Laufen halten. Nach der Uni hat Kolbe Erwachsenenbildungsseminare gehalten. Bei der SPD in Leipzig hat sie Infotische aufgebaut und Luftballons verteilt, hat sich zur stellvertretenden Parteivorsitzenden hochgearbeitet.

Ob diese Erfahrungen in einer Enquetekommission nützen? Wenn Kolbe die Aufgabe jedenfalls verbockt, wird sie so schnell keine neue Chance kriegen.

Es könnte passieren, dass ihre Ergebnisse ungelesen verschwinden. „Wenn nach zwei Jahren nur ein dicker Bericht herauskommt, der in den Schubladen landet, wäre das traurig“, sagt Kolbe. Sie springt vom Stuhl auf, zieht ein schweres Buch aus dem Regal, es ist der Abschlussbericht der Enquetekommission zum Thema „Bürgerschaftliches Engagement“. Kolbe schmeißt das Buch hoch, es fällt fast auf den Boden. „Da stehen sicher eine Menge kluge Sachen drin“, sagt sie. „Aber wir wollen mehr!“

„Dass das dritte Handy den Menschen nicht glücklicher macht, wissen wir ja“

DANIELA KOLBE

Kolbe will eine Zahl.

Einen „Fortschrittsindikator“, in den neben dem Bruttosozialprodukt weitere Werte einfließen. Faktoren, die die Leute selbst gestalten können: Arbeit, Umweltschutz, Gerechtigkeit, Gesundheit, Bildung, soziale Absicherung, Kolbe zählt sie alle auf. Der Indikator könnte dann wie das Bruttoinlandsprodukt, BIP, oder die Arbeitslosenquote in der „Tagesschau“ vermeldet werden. Es könnte eine Konkurrenz sein zum BIP, das Fortschritt bisher vor allem als Wirtschaftswachstum misst.

Andere Länder haben das auch schon versucht. Kommissionen haben Indikatoren entwickelt. Messgrößen mit schönen Namen wie „Happy Planet Index“ (siehe Grafik Seite 20, 21). Sind das nicht Zahlen genug? „In der Tat, es mangelt nicht an Indikatoren“, findet Kolbe. „Wohl aber an solchen, die von den Entscheidern ernst genommen werden. Das ist auch die Hauptaufgabe: einen Indikator zu entwickeln, der wirkmächtig ist.“

Der Verdacht, dass das Bruttoinlandsprodukt viel misst, aber kaum die Lebensqualität, ist schon seit 40 Jahren unterwegs. Aufgebracht hat ihn 1972 der Bericht „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome. Die Verfasser warnten darin, dass das Wachstum bald an seine Grenzen stoßen werde, falls Ressourcen weiter so sorglos verbraucht würden. Umstritten bleibt seither, wie sich der Wohlstand einer Gesellschaft berechnen lässt, will man beachten, dass irgendwer die Kinder hütet, der Wald stirbt und Arbeitslose, wenn schon nicht über Geld, dann wenigstens über Zeit verfügen.

Aber dass eine Zahl, wie Daniela Kolbe sie sucht – ein Indikator, der in den Nachrichten verlesen wird –, eine Gesellschaft noch lange nicht zufriedener macht, ist irgendwie auch klar.

Man kann Hans Christoph Binswanger anrufen wegen dieses Problems. Binswanger ist Wirtschaftswissenschaftler, Wachstumskritiker, Erfinder der Ökosteuer und Schweizer. Binswanger ist ein alter Mann, 82 Jahre, pensioniert, man kann ihn trotzdem fast immer in seinem ehemaligen Institut erreichen, er sagt: „Ich hoffe, dass der Enquetekommission des Bundestags mehr gelingt als nur einen Indikator zu finden. Ein Indikator allein verändert nichts.“ Binswanger findet, dass das Land eine Unternehmensreform und eine Geldreform bräuchte.

Bringt Kolbes Fortschrittsindikator uns also überhaupt weiter? Ist er am Ende nicht bloß eine Ausrede für eine Revolution, die nicht kommt?

Ein Wissenschaftler aus der Enquetekommission meint über Daniela Kolbe: „Sie leitet die Kommission sehr unaufgeregt.“ Das klingt nicht begeistert. Es klingt auch nicht wirklich nach Kritik.

Der Versuch, es jedem recht zu machen, ist wohl sowieso der beste Weg sich unglücklich zu machen im Leben.

„Der Indikator rückt immerhin Ziele in den Fokus der Politik, die momentan eher vernachlässigt werden“, erklärt Kolbe bei einem zweiten Treffen Mitte Mai. „Wo momentan der Fokus auf rein quantitatives Wachstum gelegt wird, könnte ein neuer Indikator andere Schwerpunkte setzen, etwa auf ökologische Vernunft, Verteilungsgerechtigkeit oder Bildung.“

Die Vermessung des guten Lebens

■  Das Projekt: Seit Januar 2011 tagt die Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Sie wurde von allen Fraktionen des Bundestags gemeinsam eingesetzt und besteht aus 34 Mitgliedern. 17 davon sind Abgeordnete, dazu kommen genauso viele von den Fraktionen bestimmte Sachverständige. SPD, Linke und Grüne kritisieren, dass unter den Experten bisher nur eine Frau ist, eine Ökonomie-Professorin.

■  Die Leitfragen: In zwei Jahren soll ein Abschlussbericht u. a. folgende Fragen beantworten: Wie kann Deutschland ökologische, soziale, demografische und fiskalische Herausforderungen mit geringen Wachstumsraten bewältigen? Wie können Wachstum und Ressourcenverbrauch durch Effizienz entkoppelt werden? Wie kann ein „ganzheitlicher Wohlstands- bzw. Fortschrittsindikator“ das Bruttoinlandsprodukt ergänzen?

 Die Kommissionen: In Frankreich entwarfen die beiden Nobelpreisträger Amartya Sen und Joseph Stiglitz im Auftrag des konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy 2009 ein Set von ökologischen und sozialen Indikatoren für immateriellen Wohlstand. In Großbritannien stellte eine von dem damaligen Premierminister Gordon Brown eingesetzte Kommission im März 2010 einen Index vor, der gesellschaftliches Wohlbefinden mit 68 Teilindikatoren zu fassen versucht. Auch der neue Premierminister David Cameron will die britische Bevölkerung von der Statistikbehörde nach ihrem psychischen und physischen Befinden befragen lassen, um daraus Daten für einen Glücksindex zu gewinnen. Das Europaparlament forderte vergangenen Dienstag, das BIP müsse durch neue Indikatoren ergänzt werden, die die EU-Kommission entwickeln solle.

Kolbe sitzt wieder in ihrem winzigen Bundestagsbüro. Sie wirkt älter diesmal, robuster. Ihre Frisur sieht nach Politikerin aus, nicht nach Studentin. Es liegt auch am blauen Anzug, den sie trägt. Die Suche nach Lebensqualität scheint zur Routine geworden.

Klar, sagt sie, „wenn der Indikator tatsächlich alles wäre, was unsere Diskussionen ergeben, wäre das zu wenig.“ Sie erklärt, dass es noch andere Arbeitsgruppen in der Kommission gibt: Arbeitsgruppen, die nicht nach einem Indikator suchen, sondern danach fragen, was passiert, wenn das Wachstum weniger wird. Gruppen, die darüber nachdenken, ob man das Wachstum nicht doch begrenzen muss, um die Erde als lebenswerten Ort zu erhalten. Die Interviewzeit ist fast um, aber Kolbe lässt Arbeitsgruppen und Aufgaben aufploppen wie Werbefenster auf einer Internetseite. Es sei noch zu früh, nach den Ergebnissen dieser Gruppen zu fragen, sagt sie.

Dann spricht sie wieder über ihren Indikator: „Wir befinden uns auf einem gutem Weg damit. Es gibt unter den Vertretern der unterschiedlichen Parteien erstaunlich wenig Zweifel am Nutzen eines solchen Indikators.“ Es gehe vor allem um die Umsetzung: „Die Wissenschaftler wollen viele Zahlen, die Politiker lieber wenige. Darüber streiten wir noch. Ich will persönlich nur eine einzige Zahl.“ Sie lacht, ziemlich selbstsicher. Eine einzelne Zahl lässt sich in den Abendnachrichten besser verkaufen. Sie wäre ein Symbol: Wirtschaft ist nicht alles.

„Gutes Leben ist eine sehr individuelle Sache“, hat Kolbe festgestellt. Materieller Wohlstand reiche dafür nicht aus, „dazu gehören soziale Beziehungen genauso wie sinnstiftende Arbeit.“ Kolbe fährt jetzt manchmal spontan mit Freunden für ein Wochenende an die Ostsee. Sie schwänzt die parlamentarischen Abende. „Zeitverschwendung, die meisten“, sagt sie.

Ihr roter Rollkoffer steht neben dem Schreibtisch.

 Kirsten Küppers, 38, sonntaz-Autorin, verzichtet aufs Autofahren