piwik no script img

Archiv-Artikel

Die Matratzenlager sind Geschichte

ROMA In der Harzer Straße in Neukölln lebten noch vor drei Jahren Tausende von Roma unter unmenschlichen Bedingungen. Inzwischen sind die Häuser saniert. Die Roma durften bleiben. Anderswo sieht es anders aus

Der Workshop

■ Liebe Leserinnen und Leser, die Reportage, die Sie auf dieser Seite lesen, ist das Ergebnis eines eintägigen Workshops, den die taz.berlin mit Schülerinnen und Schülern von der Max-Brauer-Schule in Hamburg-Altona veranstaltet hat. Eine 12. Klasse der Schule kam Ende September zu einer Kursfahrt nach Berlin, um sich mit dem Thema „Sozialer Wandel in Berlin“ zu beschäftigen – und um die Hauptstadt zu entdecken. Ihr Ziel: Eine Reportage zu verfassen. Die 26 SchülerInnen recherchierten etwa zu Themen wie Migration, dem Strukturwandel in den Kiezen oder der Ausgrenzung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Wir dokumentieren hier eine der Reportagen und freuen uns auf weitere Kooperationen. (jut)

VON CARLOTTA ALPERS, LEONIE K., LILY MOESS UND SVEA THIELE

Eine alltägliche Szene am Kottbusser Tor: Vier Kinder rufen laut und scherzen miteinander. Fast sieht es so aus, als würden sie spielen. Doch sie arbeiten. Mit Putzzeug in den Händen steuern sie die Autos an. Die Mädchen tragen lange Röcke. Ihre Kleidung ist zusammengewürfelt und bunt.

Die Kinder wandern von Auto zu Auto, gestikulieren wild mit den Händen und versuchen, die Autoscheiben zu säubern. Manche der Autofahrer versuchen, sie mit Handzeichen zu vertreiben. Einige stellen fluchend die Scheibenwischer an.

Während andere Kinder die Schulbank drücken, müssen diese Roma-Kinder für ein paar Euro den ganzen Tag arbeiten. Nur selten sprechen Passanten die Polizei am Kotti auf die schulpflichtigen Roma-Kinder an. Wenn die Beamten diese dann mal zu einer Nothilfestelle mitnehmen, verlassen sie die jedoch meist schnell wieder. Das Jugendamt ist laut Polizei so überlastet, dass es die Fälle nicht einmal dokumentiert.

Einer der Gründe, weshalb die Eltern ihre Kinder nicht in die Schule schicken, ist, dass ihnen das deutsche Bildungssystem vollkommen fernliegt und sie so arm sind, dass ihnen die Befriedigung der Grundbedürfnisse erst einmal wichtiger ist als Bildung.

Viele der Familien, die ihre Kinder zum Betteln oder Autowaschen schicken, kommen aus Rumänien nach Deutschland, um ihren schlechten Lebensbedingungen zu entfliehen. Ohne Hilfe ist es ihnen fast unmöglich, Traditionen loszulassen und sich anzupassen, bestätigt Marius Krauss in einem Interview. Krauss arbeitet bei Amaro Foro, einem Berliner Ableger der deutschlandweit arbeitenden Amaro Drom e. V, einer Anlauf- und Beratungsstelle für Roma und Sinti.

Wenn die Kinder doch einmal die Schule besuchen, werden sie oft ausgeschlossen. Im Jahr 2011 ergab eine Studie der Organisation RomnoKher, dass 44 Prozent der Roma in Deutschland die Schule abbrechen und 80 Prozent der Befragten Diskriminierungserfahrungen machen mussten. Immer wieder werden sie in der Schule als „Zigeuner“, „Abschaum“ oder „dreckig und unfähig“ bezeichnet. Warum halten sich Vorurteile so hartnäckig in der Mehrheitsgesellschaft?

Ana Berger guckt konzentriert auf ihre Hände. Sie rückt die Zigarettenpackung vor ihr auf dem Tisch gerade, während sie von der Situation der Roma in Deutschland, aber auch in Rumänien erzählt. Sie selbst ist keine Roma, aber Rumänin. Vor 13 Jahren kam sie nach Deutschland. Heute arbeitet sie in einem Häuserprojekt der zur katholischen Kirche gehörenden Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft in der Harzer Straße in Neukölln. Dort leben hauptsächlich rumänische Roma. Berger unterstützt die Familien, und sie übersetzt für die Bewohner zwischen Rumänisch und Deutsch.

„Es ist für Roma besser, in Deutschland nichts zu haben, als in Rumänien nichts zu haben“, sagt Berger. Das bezieht sich nicht nur auf die Lebenssituation dort, sondern auch darauf, dass rumänische Roma im eigenen Land genauso Vorurteilen ausgesetzt sind. Sie haben nicht die gleichen Möglichkeiten und Chancen auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche und beim Schulbesuch.

„Antiziganismus ist auch heute noch ein großes Problem“, findet Berger. Es basiere darauf, dass viele Menschen es einfach nicht besser wissen, es aber auch nicht besser wissen wollen. „Sinti und Roma sind keine homogene Gruppe“, erklärt Berger, „es gibt viele Untergruppen, die sich teilweise stark unterscheiden. Sinti gelten heute als die besser Integrierten.“ Trotzdem würden oft alle in einen Topf geworfen. Wenige wissen, dass die ersten Sinti schon vor rund 600 Jahren nach Deutschland kamen – Roma leben erst seit etwa 100 Jahren hier.

Jeder dritte Deutsche möchte nicht neben einer Sinti- oder Roma-Familie leben, ergab eine im September erstellte Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man es hierzulande verpasst, über den lang vorhandenen Antiziganismus aufzuklären. Auch die Ermordung und Unterdrückung während des Nationalsozialismus wurde viel zu wenig behandelt.

Die Häuser in der Harzer Straße waren vor drei Jahren noch in einem heruntergekommenen Zustand. Über tausend Menschen, überwiegend hinzugezogene Roma, lebten auf engstem Raum. Die Matratzenlager waren überfüllt, der Müll wurde nicht abtransportiert, überall stank es.

Heute sieht es hier ganz anders aus. Die sanierten Häuser sind ein komfortabler Wohnort für die Roma und ihre Mitbewohner aus vielen unterschiedlichen Kulturen. Die Kinder spielen im Hof, während die Mütter lachend zusehen und sich unterhalten. Jeder kennt jeden, und Neuigkeiten verbreiten sich sofort. Die Hälfte der Bewohner kommt aus dem rumänischen Dorf Fontanelle. Sie sind fast alle Pfingstler, was ihnen das Verhüten, Trinken und Rauchen verbietet. Es gibt eine Kita und viele Angebote wie Deutschkurse, einen Vätertreff und Nähkurse für Frauen.

„Vor allem in den Köpfen der Menschen“ müsse sich noch viel ändern, sagt Marius Krauss von Amaro Foro. Mit Projekten wie dem jährlichen „Herdelezi Roma Kulturfestival“ bringt sein Verbund auch die Kultur der Roma an die Öffentlichkeit.

Die Vorurteile, die mit Roma verbunden werden, verhinderten, dass sich diese trauen, sich als solche zu „outen“. Es sei eine Art Scham für die Herkunft entstanden, wie Anche Goll von der Diskriminierungsstelle des Bundes in einem Gespräch feststellt. „Romane Romja“, eine Initiative von Roma-Frauen, hat die Aktion „Don’t worry be a Roma woman“ ins Leben gerufen, um genau dieses Selbstbewusstsein wieder zu stärken. Dieses Selbstbewusstsein wird man brauchen, um gegen die Vorurteile der Mehrheitsbevölkerung anzugehen.