: Die Zukunft wollen
Trauma eines Geistersehers: Harald Martenstein legt einen ebenso liebevollen wie verstörenden Romanerstling über die Fünfzigerjahre vor
VON ALEXANDER CAMMANN
Die Vergangenheit bleibt der wichtigste Stoff, aus dem die deutsche Gegenwartsliteratur gemacht ist. Von Tanja Dückers über Uwe Timm bis Walter Kempowski gilt, dass der Rückblick Aura und Welthaltigkeitsgewinn verspricht. Von der Macht der Geschichte zehrt in diesem Frühjahr auch ein spätberufener Debütant. Der Journalist Harald Martenstein, 1953 geborener Tagesspiegel-Autor und Zeit-Kolumnist, erzählt in seinem Romanerstling das Leben eines seltsamen Paars, das sich durch die Anfangszeit der Bundesrepublik schlägt.
Katharina, „Schönheitstänzerin“ (sprich: Prostituierte) in der zwielichtigen Mainzer „Rheingoldschenke“, und Joseph, einst Bahnarbeiter, der nach der Heimkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft als Bankbote seine Pflichten erfüllt. Wer von Martenstein eine Persiflage des Sönke-Wortmann-Heimkehrer-Films erwartet, der wird enttäuscht sein. Und alle Martenstein-Fans, die voll Vorfreude auf Unterhaltungskost das Buch kaufen wollen, seien gewarnt: Am Ende kommt es knüppeldick.
Doch nicht vorblättern, der ganze Effekt wäre dahin. Wir müssen dem Autor folgen und uns zunächst durch eine Tragikomödie der Fünfzigerjahre kämpfen, die in Slapstickszenen mündet und in allzu gewollt herabgedimmter, arg lakonischer Sprache präsentiert wird. Die männerliebende Katharina und der beschädigte Joseph raufen sich ohne große Empfindungen wieder zusammen. Es gibt ein Weiterleben, ohne Kinder, mit Haustieren und den ebenfalls recht grotesken Verwandten, Nachbarn, Amerikanern, Gästen der „Rheingoldschenke“. Berufliche Erfolge bleiben aus, selten rutscht dem recht uneifersüchtigen Joseph mal die Hand aus. Auch wenn alle die Zukunft wollen, ist die jüngste Vergangenheit überall präsent: Da gibt es den Mann ohne Arme und Beine, der Skat mit dem Mund spielt und den Joseph im Fußballstadion immer hochheben muss, oder das regelmäßige Ruinenzählen beim Überqueren der Rheinbrücke. Lange glaubt der Leser, einer nicht sonderlich aufregenden Wirtschaftswunderburleske aufgesessen zu sein, über die man ein bisschen lächeln kann und deren Protagonisten Bedauern und Mitgefühl erregen.
Drei Kunstgriffe machen Martensteins Erzählung jedoch allmählich zur intelligenten Parabel über das Fortleben der Vergangenheit. Scheinbar unzusammenhängend wird Räuber Heigl eingeführt, eine reale historische Gestalt, die im 19. Jahrhundert die bayrischen Wälder unsicher machte und vom Autor zum Vorfahren von Katharina gemacht wird. Deren Vater Alfons war dieser Heigl als Geist erschienen. Alfons hatte im Wahn daraufhin seinen Sohn Otto getötet, wurde als dement eingeliefert und später unter den Nazis umgebracht. Und es sind die Geister, die das letzte Buchdrittel beherrschen: Sowohl Katharina als auch Joseph treten alsbald ebenfalls in Kontakt mit den verstorbenen „Besuchern von der anderen Seite“: Verwandten, Liebhabern und – Opfern. Denn nach fast 150 Seiten erleben wir die Zentralstelle des Buches im Rückblick: ein Erschießungskommando an der Ostfront. Joseph erschießt den gefangenen Politkommissar der Roten Armee und kurz darauf einen 14-jährigen Jungen, was der Autor in lapidarer Sachlichkeit und darum umso nachhallender beschreibt.
Das Ineinander von Wahn und Realität prägen Martensteins deutsche Nachkriegszeit. Es tauchen die Furchtbarkeiten auf Josephs Antlitz auf, das man jedoch nicht mehr hässlich finden kann, nachdem man die alltäglichen Dramen seiner Nachkriegsintegration mitangesehen hat und sich an seine sympathischen Züge gewöhnt hat. Und am Ende erfährt man auch überrascht, was es mit dem Ich-Erzähler auf sich hat, der diese Geschichte seines „Großvaters“ Joseph erzählt.
Simplere Gemüter könnten Martensteins Täter-Opfer-Mischung als skandalös empfinden – höchst merkwürdig, dass sich bislang noch niemand darüber aufgeregt hat. Doch gerade in der moralischen Uneindeutigkeit liegen Wagnis und Stärke dieses Buches. Darin folgt Martenstein spürbar Bernhard Schlinks Bestseller „Der Vorleser“. Die liebevolle Empathie mit dem Mörder Joseph, die ihn dennoch nicht freispricht, ist das irritierende Ergebnis. Wer sein weltanschauliches Korsett produktiv verstören lassen will, hat mit Martenstein einen guten Trainer: ein kleines, weises Buch über die Ambivalenzen, die in der Vergangenheit stecken.
Harald Martenstein: „Heimweg“. C. Bertelsmann, München 2007, 220 Seiten, 18 Euro