: Einsam, verwahrlost, vergessen
Irgendwann quillt der Briefkasten über und der Leichengeruch im Hausflur kann nicht länger ignoriert werden. Allein in Köln untersucht die Polizei bis zu 20 Fälle im Jahr, bei denen Menschen über lange Zeit tot in ihrer Wohnung lagen. Viele waren zu Lebzeiten stark alkoholabhängig, Sozialarbeiter kamen an sie nicht heran
VON JAN SCHRADER
Benommen vom süßlich beißenden Leichengeruch reißen die Polizeibeamten die Fenster auf. Sonnenlicht fällt auf Gertrud Wolfs* Leiche. Wie eine Puppe liegt die zierliche Frau auf dem zerschlissenen Sofa, den Kopf nach hinten gestreckt, die Augen geschlossen, den Mund weit geöffnet. Zu erkennen ist sie nicht mehr – die ausgetrocknete Haut hat sich dunkelgrün verfärbt, fingernagelgroße Schorfschuppen bedecken Gesicht und Hals. Erst der Gerichtsmediziner identifiziert die Tote durch eine DNA-Analyse eindeutig.
Vier Wochen lag die 64-jährige Gertrud Wolf tot in ihrer Kölner Wohnung, gefunden wurde sie inmitten einer Ansammlung von leeren Bier- und Cognacflaschen. Sie war Alkoholikerin. Und bevor sie starb, hat sie ein einsames Leben geführt.
Wie viele alkoholkranke alte Menschen einen einsamen Tod sterben, weiß niemand genau. Gezählt werden nur die Lebenden. Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) können in der Bundesrepublik ein bis zwei Prozent der über 60-Jährigen nicht ohne Alkohol leben. Das sind etwa 300.000 Menschen, die meisten von ihnen Männer. Nicht wenige der alten Alkoholiker vegetieren ihrem Ende regelrecht entgegen.
Alleine in Köln untersucht die Mordkommission KK 11 bis zu 20 Fälle pro Jahr, bei denen Menschen über lange Zeit tot in ihrer Wohnung lagen. Die Dunkelziffer sei vermutlich höher, sagt der KK11-Leiter Fred Breitenbach. Schließlich werde die Polizei nicht bei jedem Todesfall informiert. „Es trifft vor allem arme und verwahrloste Personen“, sagt er. Oft vergehen Wochen bis zur Entdeckung einer Leiche, manchmal auch Monate. Irgendwann fallen den Nachbarn die überfüllten Briefkästen auf, irgendwann kann der Leichengeruch im Hausflur nicht mehr ignoriert werden. Sterben die Menschen in ihrem Einfamilienhaus, vergeht häufig noch mehr Zeit bis zum Leichenfund, sagt Breitenbach. „Vor kurzem haben wir eine Leiche untersucht, die 17 Monate unentdeckt blieb.“
Vielleicht wäre es Gertrud Wolf ähnlich ergangen, wenn nicht eine Nachbarin an ihrer Tür geklingelt hätte. Ihr war aufgefallen, dass irgendjemand Wolfs Post in einen Beutel gepackt und an die Klinke gehängt hatte. Als niemand öffnet, ruft die Nachbarin den Hausverwalter. Wenig später bricht die Polizei die Wohnungstür auf.
Den Beamten bietet sich ein chaotisches Bild. Gertrud Wolf liegt auf ihrem beige-braunen Sofa, unter ihr mehrere Schichten Decken und Handtücher. Der Wohnzimmertisch daneben ist kaum noch zu erkennen. Wie ein baufälliges Hochhaus ragt auf der Tischplatte ein Stapel Zeitungen empor, umgeben von ungespülten Gläsern, Papierfetzen und dreckigen Kissen. In ihrem Bett hat Gertrud Wolf offenbar schon lange nicht mehr geschlafen, die Matratze ist von alten Zeitungen bedeckt. Die Küche ist ein Flaschenlager, der Boden klebrig. Es ist kalt in der Einzimmerwohnung, Schalter und Steckdosen sind ohne Strom. Möglicherweise hatte Gertrud Wolf schon zu Lebzeiten keine Elektrizität mehr.
Zugemüllte Wohnungen, das sei normal in solchen Fällen, sagt Polizei-Ermittler Breitenbach. Viele einsame Alte seien irgendwann selbst von den einfachsten Alltagsaufgaben überfordert, lebten ausschließlich von Dosennahrung oder Kartoffeln, verließen ihre Wohnung kaum noch.
„Die Nachbarn merken häufig nicht, wenn ein Mensch vereinsamt“, sagt Helmuth Schatzschneider. Der Sozialarbeiter betreut für die Kölner Arbeiterwohlfahrt zehn Senioren, die meisten von ihnen ohne Freunde und Familie. Schatzschneider sorgt für Mahlzeiten, vereinbart Arzttermine, verwaltet die meist knappen Finanzen. Er ist Haushaltshilfe und Freundschaftsersatz zugleich. Auf Spaziergängen redet er mit seinen Schützlingen über ihre Probleme, zum Geburtstag schreibt er ihnen Karten. Der Sozialarbeiter kennt auch das Haus, in dem Gertrud Wolf unbemerkt gestorben ist. In dem fünfstöckigen Backsteingebäude in der Kölner Innenstadt leben Studenten und Zuwanderer, aber auch viele alte Leute. Schatzschneider hatte hier einen Mann betreut, er starb wenige Wochen vor Gertrud Wolf. Der Rentner lag nur wenige Tage tot in seiner Wohnung. Schatzschneider hat ihn bei einem seiner Besuche gefunden.
Für die Polizei ist Gertrud Wolf ein Routinefall. Sie untersucht zunächst, ob Wolf „durch Fremdeinwirkung“ starb. Aber an der Tür finden sich keine Einbruchsspuren, die Fenster waren von innen verschlossen, an der verwesten Leiche finden sich keine Spuren von Gewalt. Die Polizisten befragen Nachbarn, wühlen sich durch Zeitungen und Briefe. Wolf hat ihre Post, so finden sie heraus, vor vier Wochen zum letzten Mal mit in ihre Wohnung genommen. Die Hausbewohner können den Beamten kaum weiterhelfen. Wann sie Gertrud Wolf das letzte Mal gesehen haben, weiß keiner der Mieter so genau. Kinder hatte sie keine, redete nur wenig mit den Nachbarn. Gab es Freunde? Nein, keine Ahnung, nie welche gesehen. Niemand kann sich erinnern, wann Gertrud Wolf mit dem Trinken begann. Eine Nachbarin will gehört haben, dass sie 2001 nach dem Tod ihres Mannes damit angefangen hat.
Man sah sie oft in der Eckkneipe am Ende der Straße. Auch dort trank sie stets allein. „Lass mich in Ruhe!“ schreit sie den Wirt eines Abends an, als der sie zur Sperrstunde aus dem Lokal führt. Ihre Augen sind glasig, sie stützt sich schwankend auf ihren Stock. Er legt die Hand auf ihre Schulter, will sie bis zu ihrer Haustür führen. Doch Gertrud Wolf wehrt sich, schüttelt ihn ab. Der Wirt ruft den Rettungsdienst. „Ich konnte sie doch so nicht stehen lassen“, sagt er. Als der Rettungsdienst eintrifft, wird sie noch lauter. „Mit wüsten Worten“ habe sie die Sanitäter beleidigt, erinnert sich der Kneipier. „Sie wollte sich nicht helfen lassen.“ Der Rettungsdienst fährt ab und Gertrud Wolf taumelt alleine nach Hause.
Oft sei Gertrud Wolf nachts betrunken in das Wohnhaus zurückgekehrt, sagen die Nachbarn. Manchmal fand sie den Wohnungsschlüssel in ihrer Jackentasche nicht mehr und schlief dann im Hausflur ein. Einmal verrichtet Gertrud Wolf ihre Notdurft im Fahrstuhl.
„Bei etwa zwei Dritteln der alkoholabhängigen Älteren liegt der Beginn des Alkoholmissbrauchs vor dem 65. Lebensjahr“, sagt Marina Schmitt, Altersforscherin am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg. Wer schon seit Jahren trinke, gerate sehr leicht in eine „Abwärtsspirale“. Die Scheu vor Mitmenschen nimmt zu, der Alltag wird zur Herausforderung, der Alkohol zu einem schnellen Ausweg für kurze Zeit. Viele Abhängige werden obdachlos oder sterben – wie Gertrud Wolf – früh und einsam.
Den Wohlfahrtsverbänden sind oft die Hände gebunden. Niemand könne dazu gezwungen werden, sich helfen zu lassen, sagt Heidrun Biedermann, Referentin für Altenhilfe in der Bundeszentrale der Caritas in Freiburg. Wenn Menschen vereinsamen, suche man die Schuld deshalb zu Unrecht bei den Sozialverbänden: „Jeder Mensch hat das Recht auf Eigenbestimmung.“ Die Sozialarbeiter dürften schließlich nicht „einfach den Fuß in die Tür stellen“, das verstoße gegen das Gesetz. Nur in Ausnahmefällen könne das Sozialamt eine Person in eine Pflegeeinrichtung zwangseinweisen – etwa dann, wenn Mitbewohner gefährdet seien oder eine akute Selbstmordgefahr bestehe. Einsamkeit und Alkoholabhängigkeit seien aber kein ausreichender Grund.
Nur wenige alte Menschen, sagt der Kölner Sozialarbeiter Helmuth Schatzschneider, rufen von sich aus bei der Arbeiterwohlfahrt an, oft sind es Nachbarn, Geschwister oder Hausverwalter. Die meisten Senioren nähmen die angebotene Hilfe dann aber an, wenn auch nicht alle beim ersten Kontakt. „Ich habe schon öfter erlebt, dass mir Leute nicht öffnen wollten“, erzählt der Sozialarbeiter. Er schreibt daher häufig Briefe und versucht es nach einigen Wochen erneut persönlich. Wer geduldig sei und freundlich bleibe, baue nach einiger Zeit Vertrauen auf.
Auch Gertrud Wolf erhielt nur wenige Wochen vor ihrem Tod einen Brief von Schatzschneider. Ob sie Unterstützung bräuchte, wollte er wissen, seine Hilfe sei kostenlos. Gerne würde er einmal auf ein kurzes Gespräch vorbei kommen, in den nächsten Tagen werde er bei ihr klingeln. Dem Brief war ein buntes Faltblatt beigelegt, mit Informationen über Wohlfahrtsverbände und Fördergelder. Ob Gertrud Wolf die Nachricht gelesen hat, weiß Schatzschneider nicht. Jedenfalls hat sie die Tür nicht geöffnet, als er später bei ihr klingelte. „Gehen Sie!“ habe Gertrud Wolf durch die geschlossene Tür gerufen. „Ich hatte den Eindruck, dass sie mit keinem etwas zu tun haben wollte“, sagt er. Als Helmuth Schatzschneider Wochen später noch einmal an ihre Tür klopfte, war sie bereits tot.
Nicht nur die polizeiliche Untersuchung, auch Gertrud Wolfs Beerdigung ist Routine. Weil keine Angehörigen ausfindig gemacht werden können, organisiert das Ordnungsamt die Bestattung. Die Leiche wird auf Staatskosten verbrannt und die Urne anonym begraben. Nur ein Akteneintrag erinnert an das einsame Leben von Gertrud Wolf und an ihren einsamen Tod.
* Name von der Redaktion geändert