: Schleifen statt Scheiße bauen
In Nordrhein-Westfalen gibt es 866 Einrichtungen der stationären Jugendhilfe. Im Jahre 2005 lebten in diesen Heimen insgesamt 17.836 junge Menschen. Eine vorherrschende Heimform gibt es seit der Ausdifferenzierung der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in den 80er Jahren nicht mehr. In zentral aufgebauten Heimen sind heute Wohngruppen auf einem gemeinsamen Heimgelände untergebracht, bei einer dezentralen Unterbringung hingegen in verschiedenen Stadtteilen. Auch bei der Betreuung gibt es unterschiedliche Formen. Die Erzieher leben entweder mit den Kindern und Jugendlichen zusammen in einer Wohngruppe oder wechseln sich in Schichten ab. In besonderen Fällen können Jugendliche in geschlossenen Einrichtungen untergebracht werden. Genau eine gibt es davon in NRW. Neben diesen stationären Erziehungshilfen gibt es noch zahlreiche Formen der nicht- oder teil-stationären Jugendhilfe. Dazu gehören Wochengruppen, die keine Wochenendunterbringung bieten, Tagesgruppen, die keine Übernachtungsmöglichkeit bieten. Bei sozialpädagogisch betreutem Wohnen leben Jugendliche ohne dauerhafte Betreuung weitgehend selbstständig. NEK
AUS KREFELD NIHAD EL-KAYED
Alle paar Sekunden klirrt es. Immer wenn Holger an der markierten Stelle sein Loch in ein Metallplättchen gefräst hat, wirft er es routiniert in den Plastikeimer, der neben ihm steht. Auch um ihn herum scheppert es ohne Unterlass. Der 18-Jährige mit der hoch gegelten Irokesenfrisur arbeitet in der Schlosserei des Wohngruppen- und Ausbildungsverbundes Fichtenhain in Krefeld. Dort lebt er und macht eine Ausbildung zum Metallbauer. Holger sieht in Heim und Ausbildung für sich eine Perspektive. Für Jugendliche in seiner Situation, die eine solche Chance nicht ergreifen, hat er kein Verständnis. „Wer das nicht begreift, hat hier nichts verloren“, sagt der große Junge im Blaumann und wirft mit Wucht ein weiteres Metallplättchen in den Eimer. „Oder, Herr Buhl?“
Ausbildungsleiter Jürgen Buhl betreut in der Schlosserei zusammen mit einem Kollegen insgesamt zwölf Jugendliche, um deren Motivation beide oft ringen müssen. „Wichtig ist, dass man die Jugendlichen ernst nimmt und sie nicht wie Kranke behandelt, obwohl sie oftmals Lernstörungen, Aufmerksamkeitsdefizite oder psychische Störungen aufweisen“, erklärt der drahtige Mittfünfziger, der wie alle handwerklichen Betreuer in Fichtenhain eine Doppelausbildung zum Meister und zum Erzieher hat. „Herr Buhl hat mich ins Leben zurückgeholt“, erzählt Holger. „Ich war schon fast hinter schwedischen Gardinen.“
Weil seine Mutter heroinsüchtig war und sich nicht um ihn kümmern konnte, ist Holger mit sieben Jahren ins Heim gekommen. Zuerst nach Gelsenkirchen, dann, mit 13 Jahren, ist er in eine Wohngruppe des Krefelder Fichtenhain-Heims gezogen. Erst dort, in der WG und später in der Schlosserei, habe er aufgehört, „Scheiße zu bauen“, sagt Holger. Davor habe er immer nur gekifft, Leute angepöbelt und Fensterscheiben eingeschlagen – eben „nur Mist gebaut“. Trauriger Höhepunkt sei dabei eine drohende Gefängnisstrafe wegen Einbruchs, Körperverletzung und Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz gewesen. Holger kramt seinen Personalausweis hervor. Das Foto zeigt einen kühl dreinblickenden Jungen mit kurzen, blondierten Haaren, der älter wirken möchte, als er ist. Zu ihm hat Holger heute einigen Abstand gewonnen. „Kriminalität ist für mich gegessen und Drogen nimmt man sowieso nur aus Langeweile“, betont er. Deswegen sei es gut, dass er hier etwas zu tun hat. Er möchte in Fichtenhain eine Ausbildung und seinen Realschulabschluss machen.
Der Wohngruppen- und Ausbildungsverbund Fichtenhain ist Teil des Rheinischen Wohngruppenverbundes des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR). Er bringt Leben und Arbeiten zusammen, und genau das unterscheide ihn von herkömmlichen Einrichtungen der stationären Jugendhilfe, erklärt Sabine Kaul. Seit knapp 20 Jahren ist die zierliche Psychologin, die seit drei Jahrzehnten in der Heimerziehung tätig ist, Leiterin der Krefelder Einrichtung. Wenn die Jugendlichen in Fichtenhain ankommen, haben sie und ihre Familie meist schon andere, ambulante Hilfen in Anspruch genommen, etwa eine Tagesgruppe besucht. Auch hat ein Sozialarbeiter die Familie betreut. „Die Maßnahme Heim wird so häufig wie nötig, so selten wie möglich eingesetzt“, erklärt Sabine Kaul. Auch der Wohngruppen- und Ausbildungsverbund Fichtenhain biete neben der Heimunterbringung andere Hilfen an: Tagesgruppen, sozialpädagogisch betreutes Wohnen, aber auch flexible Hilfen wie die sozialpädagogische Betreuung von einzelnen Familien.
Wenn ein Jugendlicher dann doch ins Heim komme, so Kaul, seien psychische Störungen, Schulverweigerung, Gewalt in der Familie oder Missbrauch die häufigsten Gründe. Dies bedeute aber nicht, dass die Eltern das Sorgerecht nicht mehr haben. Somit liege die Entscheidung, ob ihr Kind ins Heim kommt, bei den Eltern. „Aber wir wollen die Zustimmung des Jugendlichen, er muss den Aufenthalt im Heim zumindest akzeptieren“, betont Sabine Kaul. Ob das Heim ein Ersatz für die Familie sein könne? Die Psychologin wägt kurz ab. „Auch wenn es bei den Eltern nicht gut ist, so sind die Jugendlichen dort immer noch zu Hause. Häufig sprechen die Jungen von zwei Zuhause. Letztlich ist der Aufenthalt im Heim zeitlich begrenzt, das Elternhaus hingegen bleibt.“
Heim bedeutet in Fichtenhain die dezentrale Unterbringung in Wohngruppen. Während sich Verwaltung, Schule und Werkstätten nahe der Krefelder Innenstadt befinden, leben die 53 Heimjungen in benachbarten Gemeinden wie St. Tönis oder Kempen jeweils zu Sechst oder zu Siebt in insgesamt sieben Wohngruppen zusammen. „Die Jugendlichen sollen in einer normalen Umgebung und nicht in einer abgeschlossenen Welt für sich aufwachsen“, erläutert Sabine Kaul das Modell.
Eines dieser Zuhause auf Zeit liegt in St. Tönis, in einer ruhigen Einfamilienhaussiedlung. Das verklinkerte Haus mit Garten wird von sechs Jungen bewohnt. Betreut werden sie von sechs Betreuern, die sich in Schichten die Aufgabe teilen. Den Haushalt müssen die Jungen selbst organisieren, erklärt Anja Zimber, eine der BetreuerInnen, und zeigt auf den Haushaltsplan in der Küche. Dort ist festgehalten, wer mit Essenkochen oder Putzen dran ist. Die helle Küche mit Sitzecke liegt dem Wohnzimmer gegenüber. Das jedoch, verrät die Betreuerin, werde kaum noch benutzt, seit jeder hier seinen eigenen Fernseher habe. Auch Daniel hat einen Fernseher in seinem Zimmer, er nimmt fast den ganzen Schreibtisch ein. Viel auffälliger als der Fernseher jedoch ist Daniels Begeisterung für Autos, die Wände sind mit Autopostern zugepflastert. Einen Führerschein habe er zwar noch nicht, sagt Daniel. Aber bald werde er mit den Fahrstunden beginnen. Bis dahin fährt der schmächtige 17-Jährige mit seinen Freunden Roller.
Seine Rollergang kennt er aus der Schule, mit dem Heim habe die nichts zu tun. Aus der Wohngruppe sei er nur mit einem Jungen befreundet, „mit den anderen habe ich mich auch schon mal gekracht“. Daniel wohnt seit dem Tod seiner Eltern in der Wohngruppe in St. Tönis. Ihm gefalle es dort gut, sagt er zurückhaltend, eine Familie sei sie für ihn aber nicht. „Meine richtige Familie lebt in Berlin und in Trier.“ Da wohnen seine Onkel, Tanten und Cousins. Wenn er mal Probleme habe, bespreche er das mit seinem Betreuer, den jeder Jugendliche hat.
Leben, lernen und arbeiten unter einem Dach. Für Jugendliche, die ins Heim kommen, ist eine Berufsausbildung oft das Ticket zurück in die Gesellschaft. Heim bedeutet im Wohngruppen- und Ausbildungsverbund Fichtenhain in Krefeld die Unterbringung in dezentralen Wohngruppen und eine Ausbildung in der hauseigenen Werkstatt
Auch Holger lebt in der Wohngruppe in St. Tönis. Mit den Betreuern dort habe er häufiger Probleme, erzählt er. Generell sei es ein Nachteil, dass alle Erwachsenen Pädagogen sind. Er verzieht das Gesicht. „Manchmal wäre es besser, wenn sie einen erstmal in Ruhe lassen würden. Wenn ich Probleme habe, komme ich schon von selber.“
Die meisten Heimbewohner besuchen die Schule oder eine der Fichtenhain-Werkstätten in Krefeld. Hier können sie verschiedenste Berufe lernen: den des Metallbauers etwa oder auch den des Schreiners oder Gärtners. „Das bietet den Jugendlichen nach ihrer schwierigen Schullaufbahn einen guten Einstieg“, erklärt Ausbildungsleiter Jürgen Buhl. Natürlich sei die Arbeit mit den Jungen manchmal ein Kampf, sagt er. „Irgendwann macht es bei den meisten Jugendlichen dann aber ,Klick‘, und sie begreifen, dass sie sich ändern müssen, wenn sie etwas erreichen wollen.“ Er klopft einem der Jungs auf die Schulter und grinst ihn an. „Er hier zum Beispiel hat gestern blau gemacht, ist nach der Mittagspause einfach nicht wiedergekommen.“ Aber er sei eben noch nicht lange da, und am Anfang müsse man die Jugendlichen an der langen Leine lassen, um sie dann „immer näher ranzuholen“, erzählt er bei seinem Gang durch die Schlosserei. Zwang bringe da eher wenig.
Sabine Kaul findet, dass aus den Jungen meistens „einfach nette Personen“ werden, auch wenn man das bei den Jüngeren vielleicht noch nicht so deutlich sieht wie bei den Älteren, zum Beispiel Holger und Daniel. Deswegen sei das Geld in der Jugendhilfe auch gut angelegt. „Denn diese Jugendlichen sind problematisch und bleiben es, wenn man ihnen nicht hilft.“ Durch den Aufenthalt im Heim vergrößere sich die Chance, dass die Jugendlichen später ihr eigenes Geld verdienen und nicht im Gefängnis landen. Ein großes Problem auch für Fichtenhain sei neuerdings, dass mehr aufs Geld geguckt wird, seit die Kommune und nicht mehr das Land für die Einrichtung zuständig ist. „Kommunen haben einfach weniger Geld.“ Da werde eine Maßnahme schon mal aus Kostengründen abgebrochen, wenn der Jugendliche keinen Willen zeige, die Hilfe anzunehmen. Früher habe der pädagogische Aspekt stärker im Vordergrund gestanden.
Holger will später mal Lokführer im Güterverkehr werden. „Das kann man gut machen mit einer Schlosserausbildung.“ Vielleicht gehe er aber auch zur Bundeswehr. „Die bilden einen weiter, wollen, dass man sogar Abitur macht und studiert.“