Rückkehr der lebenden Toten

„Vorbei“: Hans Joachim Schädlichs Erzählungen umkreisen letzte Dinge

„Mir fiel einmal auf, dass viele meiner Texte mit dem Tod enden. Merkwürdig.“ Seinem zehn Jahre alten Befund folgt Hans Joachim Schädlich auch in seinem neuen Buch: Jeweils am Schluss seiner drei kurzen Erzählungen ist ein Künstlerleben „vorbei“. Doch zu Ende ist nach der Lektüre natürlich gar nichts. Schädlich ist ein Geisterbeschwörer, dessen Geschichten auf ebenso faszinierende wie irritierende Weise lange nachhallen. Dabei gehört der 1935 geborene Schriftsteller zu den hochgelobten Außenseitern unter Deutschlands Autoren: vielfach preisgekrönt, bewundert von Kollegen, Kritikern und Germanisten.

„Versuchte Nähe“ (1977) hieß sein Debüt mit Erzählungen, die die Wahnwelt der DDR demaskierten. Seit 1977 im Westen lebend, legte er 1986 seinen großen, epochenübergreifenden Spitzelroman „Tallhover“ vor, 1992 den Roman über die multiple Ahasvergestalt „Schott“. Doch die verdiente Resonanz beim Publikum blieb aus. Die avancierten Formen und Inhalte, die der einstige Linguist miteinander verwob, waren offenbar zu komplex.

Einfach, schlicht, karg: In reduzierter Sprache präsentiert Schädlich hingegen diesmal historischen Stoff, den Normalautoren möglichst üppig und farbig ausgemalt hätten. Doch Kunst ist Weglassen, weiß Schädlich. Mit wenigen Strichen zeichnet er – umso erstaunlicher ist die Intensität und Weisheit, mit der drei anrührende Schicksale vorgestellt werden.

Da wäre einmal der vergessene Komponist Antonio Rosetti. Der begabte Mozart-Zeitgenosse begibt sich auf eine mühselige Hofkapellmeisterkarriere bei diversen Fürsten, obwohl seine Werke in Anwesenheit Haydns aufgeführt werden und sein Requiem nach Mozarts Tod erklingt. Als endlich die ersehnte Stelle in Berlin winkt („Der König liebt deine Musik sehr“), stirbt der ewig sich plagende Rosetti: „Um sieben Uhr abends wurde ihm ums Herz leicht.“

Da wäre Winckelmann, jener sehnsüchtige Begründer der klassischen Antikenbegeisterung: Auch er hat als bereits berühmter Forscher in Rom eine Stelle in Berlin in Aussicht. Schwermütig kehrt er jedoch vorzeitig in den geliebten Süden zurück, wo er 1768 in Triest ermordet wird. Anhand zeitgenössischer Gerichtsakten schildert Schädlich den Fall, das blutüberströmte Sterben des gewürgten und erstochenen Winckelmann ebenso wie die Hinrichtung des Mörders: lebend gerädert in aller Öffentlichkeit.

Ein Meisterwerk ist die Erzählung, die am Anfang des Buches steht. Eine skurrile Gesellschaft macht sich Ende des 19. Jahrhunderts auf, um ihren Freund, den auf Samoa lebenden Schriftsteller Robert Louis Stevenson zu besuchen. Dabei verwischen sich die Zeiten mysteriös: Ein Teil seiner Bewunderer war auf dem gleichen Schiff schon 1722, als damals der holländischen Admiral Roggeveen die Osterinsel entdeckte. Diese Zeitreisenden können den verwunderten Mitfahrern von Defoes „Robinson Crusoe“ erzählen; manchmal tauchen auch Piraten auf. „Alles ist jetzt!“, erfährt der in den Sog dieser Rätsel geratende Leser: „Die Erinnerung besteigt eiserne Schiffe“, heißt es an einer Stelle und: „Die Geschichte veraltet nicht.“ Stevenson ist natürlich tot, als dieses Geisterschiff 1894 endlich Samoa erreicht.

Künstlerleben und Tod sind verwunschene Territorien, auf die uns der Geschichtenerzähler Schädlich hier führt. Jedes Wort wiegt schwer, jede fehlende Beschreibung öffnet Räume für bildmächtige Fantasie. Die Tristesse der Endlichkeit ist bei Schädlich nur scheinbar, denn auf magische Weise lebt hier alles fort.

„Eiland van Verkwikking“, Insel der Erquickung, hatten einst Roggeveens Männer eine Südseeinsel genannt, auf der sie Kräuter gegen Skorbut fanden – und auf der sie zuvor viele Eingeborene im Gefecht erschossen. Leben und Tod, unauflöslich verbunden: Hans Joachim Schädlich hat auf seinen drei durch Vergänglichkeit verzauberten Erzählinseln dennoch Kräuter für mancherlei Unsterblichkeit angepflanzt, allen Lesern zur Erquickung. ALEXANDER CAMMANN

Hans Joachim Schädlich: „Vorbei“. Drei Erzählungen. Rowohlt, Reinbek 2007, 160 Seiten, 16,90 Euro