Zirkusnummer Liebe

Arnold Stadler erzählt in seinem neuen Roman „Komm, gehen wir“ auf vielen Umwegen eine Dreiecksgeschichte

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Es beginnt mit einer klassischen Urlaubssituation im August 1978. Ein junges Paar auf Capri, Roland und Rosemarie, beide Studenten, beide Anfang zwanzig. Im November soll geheiratet, zuvor noch einmal gelebt werden. Doch dann kommt ein junger Mann an den Strand („I am Enzo, call me Jim“), und von einem auf den anderen Augenblick ändert sich für Roland und Rosemarie alles. Das Paar wird zum Dreieck; die zuvor geordnete Beziehung zur Leidensgeschichte. „Komm, gehen wir“, sagt Roland nach zwei Stunden am Strand, und sie gingen.

Es ist eine ganze Menge, was Arnold Stadler dem Leser zu Beginn seines Romans an struktureller Anarchie zumutet. Es scheint, als habe Stadler nicht nur keine Angst vor dem Scheitern, vor Redundanzen, Zoten und Wiederholungen – vielmehr möchte man glauben, er erhebe all das zu Stilmitteln, um einen provokativen Kontrapunkt zu setzen zu einer glatten, aufgehenden, funktionierenden Literatur, zu den runden Geschichten. Sollte das der Fall sein, und man darf bei einem Autor wie Stadler davon ausgehen, bedient er sich dieser Techniken auf glänzende Weise. Es braucht viel Anlauf und Geduld, bis der Roman auf sicheren Beinen steht, rund 130 Seiten, was nicht heißt, dass das erste Drittel sich nicht zu lesen lohnte. Denn wie stets bei Stadler ist es nicht das Was, sondern das Wie seines Erzählens, das auch „Komm, gehen wir“ zu einem Erlebnis macht.

Nach der Begegnung am Strand rollt Stadler auf ziemlich heillose Weise die Biografien seiner drei Protagonisten auf – da werden Charaktere aufwendig eingeführt, ganze Familien erfunden, um nach wenigen Seiten wieder aus der Geschichte zu verschwinden, und zwar endgültig und mit Ankündigung. Da stehen Sätze wie „Rolands Vater war ein Teil jener Migrationsbewegungen (wie Weizsäcker sagt)“, und man muss sich erst einmal bewusst machen, dass sich hier plötzlich eine personale Erzählstimme kommentierend einschaltet und auf die Siebzigerjahre zurückblickt. Da wird das Verb „leben“ ganz nebenbei als Synonym für „onanieren“ (oder wahlweise auch den Geschlechtsverkehr) eingeführt, ein Kunstgriff, der konsequent durchgehalten wird. Und natürlich gibt es diese Momente und diese Sätze, Stadler-Momente, Stadler-Sätze, Stadler-Lebensläufe mit ihren Wendungen, die einen Mann dahin bringen können, mit einem Tangaslip bekleidet in einem Kaninchenstall zu sitzen und mit Hilfe von Ehehygieneartikeln (also Pornobildern) zu leben (also zu onanieren), und dabei an seine Schwägerin zu denken, die soeben mit seiner Frau in der Küche ein Schwätzchen hält. Die Kaninchen schauen unbeeindruckt.

Doch spätestens dann, wenn der Roman sich auf die Dreiecksbeziehung zwischen Roland, Rosemarie und Jim, einem Amerikaner mit italienischen Vorfahren, verengt, wird deutlich, dass „Komm, gehen wir“ auch und vor allem eine ziemlich verzweifelte Erweckungs- und Liebesgeschichte ist. Denn während für Jim, den Stadler durch diverse Anspielungen in die Nähe von Felix Krull rückt, alles ganz einfach scheint, gerät Rolands Coming-out zur persönlichen Katastrophe. Zunächst reist er mit Rosemarie und Jim durch Italien, erlebt auf dem Petersplatz in Rom die Ausrufung von Johannes Paul I. zum Papst („So standen sie nun auf dem Petersplatz, als warteten sie auf den weißen Rauch, und warteten auch noch auf den weißen Rauch“), fährt dann jedoch zum Semesterbeginn allein zurück nach Hause, nach Freiburg. Irgendwann kommen Jim und Rosemarie gemeinsam zurück; dann stirbt Johannes Paul I., und Rosemarie bemerkt am gleichen Tag, dass sie schwanger ist. „Tragisch ist, wenn es nicht anders geht“, pflegte Rolands Deutschlehrer zu sagen und scheint recht zu behalten. „Vielleicht war es sogar leichter, einen Liebesroman zu schreiben, als zu leben“, sagt der Erzähler.

Den stärksten Teil des Buches bildet ein rund vierzig Seiten umfassendes Kapitel, in dem Roland und Jim zu einer Hochzeit in Rolands Heimatdorf nahe Meßkirch fahren. Hier, im Süddeutschen und seiner Melange aus Katholizismus, Doppel- und echter Moral, Scham, Schweigen, Besäufnissen und Onanie, kennt Stadler sich aus wie kein anderer deutscher Schriftsteller. Und er schreibt darüber so glänzend, so komisch und wahrhaftig wie kein anderer, fängt Beobachtungen ein, die so einfach wie frappierend formuliert sind: „Sie hatte ein Hochzeitssträußchen am Revers ihres gepunkteten Kleides. Darüber war ihr Haar, das noch ganz weiß war. Die anderen älteren Damen waren schon alle blond.“

Die Kunst der Abschweifung hat Stadler perfektioniert. Wie gesagt, nicht selten landen diese Abschweifungen zielgerichtet in einer Sackgasse, und dennoch ist man froh, sie gegangen zu sein, weil hier buchstäblich Gott und die Welt verhandelt und in einen engen Reflexionszusammenhang gestellt werden. Aber was ist mit dem Leben und der Liebe? Beides nimmt in dem Zeitgeist angepassten Schleifen seine Wendungen in einer Welt, in der „die Freude allmählich durch den Spaß ersetzt wurde“. Roland wird Schriftsteller, die Sehnsucht bleibt, weil sie immer da war, hin und wieder kommen Briefe aus Amerika an: „Er schnupperte sie auf Zeichen der Liebe ab und spielte weiterhin die Rolle des Stammhalters leidlich, fast schon wie eine Zirkusnummer, so wie die Liebe mittlerweile schon fast jene Zirkusnummer war, die er am besten spielte.“ Wenn die Liebe eine Zirkusnummer ist, erweist sich Arnold Stadler in „Komm, gehen wir“ als ihr kunstfertiger Dompteur.

Arnold Stadler: „Komm, gehen wir“. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007, 400 Seiten, 18,90 Euro