: Im Räderwerk
Wann wird ein Völkermord zum Völkermord? Erst wenn die eliminatorische Absicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann. Im Fall Darfur ist genau das ein Problem
Micha Brumlik lehrt Erziehungswissenschaften; viele Jahre leitete er das Fritz-Bauer-Institut zur Erforschung des Holocaust. Im März ist eine Neuausgabe seines Buches „Schrift, Wort und Ikone – Wege aus dem Bilderverbot“ erschienen.
Die Frage der Anerkennung des Genozids an anderthalb Millionen Armeniern im Jahr 1915 spielt im Prozess der Aufnahmeverhandlungen der Türkei in die EU immer wieder eine irritierende Rolle. In Frankreich und der Schweiz ist es inzwischen bei Strafe verboten, den jungtürkischen Genozid an den Armeniern zu leugnen. Auffälligerweise haben jedoch auch regierungsnahe türkische Historiker nie bestritten, dass es – nicht erst 1915 – Massaker großen Ausmaßes an Armeniern gegeben hat. Was also ist es, was die Verwendung des „G-Wortes“ so heikel und brisant macht?
Warum etwa war die systematische Ermordung von etwa anderthalb Millionen Kambodschanern durch die Roten Khmer gemäß der UN-„Konvention gegen Völkermord“, die 1948 unter dem Eindruck des Holocaust verabschiedet wurde, kein „Völkermord“? Und warum können Überlebende der Massaker der Dschandschawid-Milizen an Bewohnern von Darfur davon sprechen, dass es „Schlimmeres als Völkermord“ gäbe?
Das liegt daran, dass es sich bei der UN-Genozidkonvention um einen genau definierten Begriff aus dem Völkerstrafrecht handelt, der anspruchsvolle Voraussetzungen und gravierende Folgen – gegebenenfalls sogar eine militärische Intervention gegen einen ansonsten souveränen Staat – haben kann. Bei den Voraussetzungen geht es um so etwas ähnliches wie um die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag, die aus dem Strafrecht bekannt ist. Damit etwa nach deutschem Recht von Mord die Rede sein kann – und damit eventuell von einem weitaus höheren Strafmaß –, müssen vorsätzliche, niedrige Beweggründe nachgewiesen werden.
Um völkerstrafrechtlich von „Genozid“ zu sprechen, muss der Vorsatz einer Regierung, eine ethnische oder religiöse Gruppe in ihrem Bestand dezimieren oder gar auszurotten zu wollen, zweifelsfrei nachgewiesen werden. Wie schwer das ist, hat das jüngst in Den Haag gesprochene Urteil gegen Serbien gezeigt. Dabei ist noch nicht einmal der Nachweis massenhafter Tötungsabsicht erforderlich – zum Nachweis eines Genozids genügt es, einer Regierung auch nur die systematische Geburtenverhinderung oder das Kidnapping von Kindern einer Gruppe nachzuweisen. Andererseits war die Sowjetunion 1948 nur dadurch zu einer Zustimmung zur Konvention zu bewegen, dass auf die massenhafte Drangsalierung oder Ausrottung „sozialer“ Gruppen wie der sogenannten Kulaken erst gar nicht verwiesen wurde.
Nur wenn eine Absicht nachweisbar ist, können die entsprechenden UN-Institutionen wie der Sicherheitsrat von „Genozid“ sprechen. Ist dies jedoch der Fall, sind Sanktionen – oder gar militärische Interventionen – beinahe zwingend die Folge. Mit anderen Worten: ethnische, religiöse oder sprachliche Gruppen, die tatsächlich verfolgt und ausgerottet werden, genießen verstärkten Schutz meist erst dann, wenn die Verbrechen bereits begangen worden sind. Es ist deshalb kein Zufall, dass Rudolf Scharping und Joschka Fischer den umstrittenen Einsatz der Bundeswehr gegen Serbien – oft und keineswegs zu Unrecht kritisiert – „nur“ unter der moralischen Berufung auf „Auschwitz“ und nicht in Bezug auf die Völkermordkonvention rechtfertigten. Moral ist eben allemal biegsamer als das Recht.
Im Sinne der UN-Konvention gilt „Genozid“ – im Unterschied zu „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ oder anderen Kriegsverbrechen – zumindest moralisch als das Schlimmste, was an politisch motivierter Kriminalität begangen werden kann: weil das, was wir als „Holocaust“ bezeichnen, der historische Anlass für die Konvention war. Es liegt wiederum in der Logik völkerstrafrechtlicher Begriffsbildung, dass es weniger auf Ausmaß und Intensität derartiger Verbrechen ankommt als auf ihre – wie gesagt – innere Struktur: die Absicht. So lässt sich sagen, dass etwa der „Holocaust“ ein Genozid war. Nicht jeder Genozid aber muss dem entsprechen, was wir uns als „Holocaust“ vorstellen.
Im Fall von Darfur, wo nach konservativen Schätzungen inzwischen siebenhunderttausend Menschen mit Billigung der sudanesischen Zentralregierung umgebracht und zwei Millionen vertrieben worden sind, ist es nach Auskunft selbst engagierter Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen derzeit nicht möglich, den Nachweis eines Genozids zu führen. Dieser Umstand wirkt sich zum Nachteil der noch lebenden Bevölkerung Darfurs aus, entbindet er doch die sogenannte Völkergemeinschaft von der Pflicht zum unmittelbaren Einschreiten.
Darfur zeigt – wie schon weiland der Genozid in Ruanda –, dass globales Moralempfinden, internationale Rechtsentwicklung und effektive planetarische Rechtsordnung sich keineswegs im Einklang entwickeln. Doch nicht nur die Staatengemeinschaft ist durch derlei Asymmetrien gekennzeichnet. Auch die moralische Sensibilität westlicher Gesellschaften und Öffentlichkeiten ist ihrer Bereitschaft, sich effektiv zu engagieren, weit voraus. Bei Naturkatastrophen wie dem Tsunami vor mehr als zwei Jahren erreichte die Spendenbereitschaft einsame Höhen. Sofern es mediale Bilder gibt, ist die Erschütterung über Menschenrechtsverletzungen gleichfalls groß. Bei der Frage indes, ob den Mördern am Ende militärisch Einhalt geboten werden soll, reagieren wir – die Bürger „postheroischer Gesellschaften“ (Herfried Münkler) – mehr als zurückhaltend.
Das ist verständlich, aber letztlich fatal. Denn eines hat die Geschichte der Völkermorde im zwanzigsten Jahrhundert gezeigt: keinem einzigen dieser Verbrechen ist allein durch Appelle, Proteste oder Sanktionen Einhalt geboten worden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Genozide in aller Regel – und das war im Fall des Holocaust auch nicht anders – im Laufe eines Krieges oder eines Bürgerkrieges begangen werden.
Daraus ließe sich die bequeme Konsequenz ziehen, einfach präventive Kriegsverhütung zu betreiben – eine Forderung, die im zwischenstaatlichen Bereich bei allen Schwierigkeiten noch zu erfüllen, der aber angesichts zerfallender Staatsgebilde und „failed states“ nur schwer nachzukommen ist. Völkermorde oder andere massenhafte Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden in der unübersichtlicher gewordenen Welt nach dem Kalten Krieg jedoch, auch das lehrt Darfur, genau dort und dann begangen, wo die Globalisierung sich nur auf das Ökonomische beschränkt. So bleibt nur zu hoffen, dass das vor zwei Jahren von der UN-Generalversammlung formulierte, bisher aber noch nicht rechtsverbindliche Prinzip der „Responsibility to Protect“ eine Entwicklung einleitet, die die Machthaber nicht nur in „failed states“ auch künftig unter stärkeren Druck setzt.
Ein solches Prinzip wäre leichter einzuklagen, als es derzeit ist, einen Genozid festzustellen. Über eines jedoch sollte man sich keiner Illusion hingeben: Es fordert, als Ultima Ratio, die Bereitschaft zur militärischen Intervention. Um einen geringeren Preis ist die Sehnsucht nach globaler Gerechtigkeit nicht zu haben. MICHA BRUMLIK