: Die Kröte frisst die Fliege
Andreas Weber hat mit „Alles fühlt“ ein Buch geschrieben, das nützlich hätte sein können im Kampf gegen den neoliberal besetzten Darwinismus. Er verfängt sich aber in ökologischer Gefühlsduselei
VON CORD RIECHELMANN
Unerträglich fand Heraklit die Vorstellung von einer liebenden Verschmelzung der Elemente. Was die Götter getrennt haben, solle man nicht zusammenführen, meinte der Naturphilosoph. Denn es sei der Antagonismus der Elemente und der Lebewesen, der das Werden der Welt bestimme. Ein Gedanke, den das Christentum mit der Erfindung des liebenden Schöpfergottes ratzfatz erledigte – ohne allerdings nicht brav weiter dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Bauern zu erschlagen, die das mit dem Geben etwas anders sahen.
Man sieht an diesem kurzen Abriss der letzten 3.000 Jahre: Gleich, wie man’s nennt, es tobt ein Kampf. Und als Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Charles Darwin im 19. Jahrhundert den Schleier der Liebe nach fast 2.000 Jahren christlicher Verblendung von Ökonomie, Kultur und Natur rissen, blieb nichts als Hauen und Stechen. Der „Kampf ums Dasein“ (Darwin) reißt die Lebewesen in den Strudel des permanenten Krieges aller gegen alle.
Aber, kann man berechtigt fragen, stimmt das denn überhaupt so? Warum zum Beispiel nehmen Steppenpaviangruppen regelmäßig alte, in anderen Gruppen abgelöste Exchefs auf und lassen sie in Ruhe gewähren, wo die doch zu nichts mehr gut sind und wegen ihrer Gebrechlichkeit andauernd zu spät kommen? Und warum pflegt eine Bonobofrau im Zoo einen gegen die Glaswand gedonnerten Star so lange, bis er sich erholt hat, um ihn dann erneut fliegen zu lassen? Gute Fragen sind das, fand schon der russische Anarchist und Revolutionär Peter Kropotkin und sammelte Beispiele „gegenseitiger Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“. Als Kropotkins Buch 1902 in englischer Sprache erschien, trat es der englischen „Gesellschaft“, in der sich das Bürgertum seine Legitimationen aus Darwins Theorien holte, als Kampfschrift gegenüber.
Was man von dem gerade im Berlin Verlag erschienenen Buch „Alles fühlt“ von Andreas Weber nicht sagen kann. Und genau das ist sein Hauptproblem. Der 1967 geborene Weber hat Philosophie und Biologie studiert und dabei die richtige Beobachtung gemacht, dass das eine im anderen nicht vorkommt. Singende Nachtigallen haben in einer Vorlesung über Descartes Körpermaschinen keinen Platz. Aber auch die Biologie kann mit der Seele der Vögel nichts anfangen. Weber stellt fest, dass die Schönheit der Songs der Vögel für ihn keine Frage der bioakustischen Analyse ist.
Daraus ergeben sich berechtigte Fragen, die Weber in dem schönsten Satz seines Buches zusammenfasst: „Der biologische Darwinismus versucht, die Musiken der Tiere als Werbejingles in einem Konzert der Effizienz zu verstehen.“ An der in diesem Satz formulierten Diagnose ist überhaupt nichts auszusetzen. Sie trifft den Kern der Krise des Darwinismus: Die Erklärung von Lebensphänomenen wie dem ausufernd variablen Nachtigallengesang durch betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analysen und mathematische Optimalitätsmodelle kann als gescheitert gelten. Weber sticht im Folgenden direkt ins Herz der Evolutionisten: „Der Überlebenskampf, den die Biologen in die Natur hinaustragen, herrscht im Zweifel in ihren eigenen Gesellschaften.“
Das ist doch, könnte man jetzt denken, eine klare Ansage. Mit der kann man loslegen im Kropotkin’schen Sinne mit dem Kampf gegen die Dumpfmetaphysik des neuen Gottes, den sogenannten freien Markt und seine neoliberalen Verkünder einer angeblich alternativlosen Wirtschaftsform vom ewigen Überleben der Besten.
Das gelingt aber nicht, weil es dafür schon zu spät ist, als man im letzten Drittel von „Alles fühlt“ auf diesen Satz stößt. Man musste bis dahin schon durch zu viele Synthesen hindurch, die versuchen zusammenzufügen, was nicht zusammengehört. „Alles fühlt“ will nämlich nichts weniger sein als der Beginn einer „schöpferischen Ökologie“. Und in der verbindet sich alles mit allem, Physik mit Biologie, Kunst mit Technik und Wissenschaft, Leben mit Tod usw. Für Weber frisst die Kröte die Fliege zwar auf, aber in einem Punkt sind die beiden sich gleich: in der Fähigkeit zu fühlen. Die macht sie gleich im Alles dieser Welt, das auch den Spatz und Paris Hilton umfängt. Und das ist sozialdemokratische Ulrich Beck-Philosophie.
Die schöpferische Ökologie geht davon aus, dass sich alles, was in der Natur passiert, eins zu eins in der gesellschaftlichen Sphäre noch einmal realisiert. Und das dachten die Sozialdarwinisten auch schon. Vielleicht hatte Reich-Ranicki doch recht, als er meinte, wenn er das Wort Gefühle schon höre, würde er am liebsten sofort den Raum verlassen und nach Hause gehen.
Andreas Weber: „Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften“. Berlin Verlag, 2007, 320 Seiten. Heute, 19 Uhr: Buchpremiere, Villa Oppenheim, Schlossstr. 55