: Überforderte Muster-Lehranstalt
Eigentlich genießen die privaten Brecht-Schulen in Hamburg einen guten Ruf bei der Ausbildung hochbegabter Kinder. Doch es herrscht Chaos, sagen immer mehr Eltern und melden ihre Kinder ab. Der Rektor kann keine besonderen Probleme erkennen
VON MARCO CARINI
In höchster Not wandte sich Roman* direkt an seinen Schulleiter. In einem Brief beschrieb der 12-jährige Schüler des privaten Brecht-Gymnasiums im Hamburger Stadtteil St. Georg eindringlich, wie er von einem Mitschüler über Monate bedroht und „gequält“, „auf die Brust und meine Nieren geschlagen“ wurde, so dass er „keine Luft mehr bekam“. Verzweifelt bat er Rektor Klaus Nemitz, „so schnell wie möglich mit mir über meine Probleme zu sprechen“. Eine Antwort auf seinen Anfang des Jahres verfassten Hilfeschrei hat Roman nie erhalten.
Inzwischen hat der Achtklässler die Schule – die sich rühmt, sie kenne „keine Außenseiter“ – verlassen und befindet sich in psychiatrischer Behandlung. Sein Sohn habe „Angstträume und Weinkrämpfe“ gehabt und „sogar an Selbstmord“ gedacht, berichtet Romans Vater. Als die Eltern im Januar das Gespäch mit Rektor Nemitz suchten, bekamen sie nach ihren Angaben nur zu hören: „Melden sie ihr Kind doch ab, wenn es ihnen hier nicht passt.“
Doch die darauf folgende fristlose Kündigung akzeptierte die Schule nicht – sie fordert weiterhin das Schulgeld von 240 Euro pro Monat. Die von der Schule eingeschalteten Juristen ließen den Eltern mitteilen, ihre Mandantin werde sich auch „nicht an den Kosten … der fachpsychologischen und psychiatrischen Behandlung“ Romans beteiligen: Sie habe „in keiner Art und Weise ihre Fürsorge- und Schutzpflichten gegenüber ihrem ehemaligen Schüler verletzt“. Romans Vater hingegen klagt: „Erst haben die Lehrer meinen Sohn nicht vor Misshandlungen geschützt, dann hat der Rektor jeden Anwurf vom Tisch gewischt.“
Gewalt, Mobbing und überforderte Lehrer
Roman ist offenbar kein Einzelfall: Neun Eltern ehemaliger Brecht-SchülerInnen erheben ähnliche Vorwürfe gegen die Privatschule mit dem Super-Image, sind bereit ihre Behauptungen eidesstattlich zu versichern. Sie alle berichten von Gewalt und Mobbing, von Pädagogen, die keinerlei Ausbildung für den Umgang mit hochbegabten Kindern hätten und von einer Schulleitung, „die alle Probleme unter den Teppich kehrt“. Mindestens neun Kinder allein aus der Mittelstufe haben seit vergangenem Winter die Schule verlassen – „freiwillig“.
Zu diesen Freiwilligen gehören auch der 16-jährige Max* und seine drei Jahre jüngere Schwester Maria*. Ihre Eltern nahmen beide „auf eindringlichen Rat“ eines Kinderpsychologen von der Schule, die sich seit sechs Jahren auf die Förderung hochbegabter Kinder mit einem IQ jenseits der 130-Marke spezialisiert hat. Auch Maria sei „geschlagen worden“, berichtet ihr Vater. „Als wir darüber mit der Stufenkoordinatorin sprechen wollten, hörten wir nur, das Kind, das geschlagen habe, drücke sich eben so aus.“
Mehrere Eltern berichten, dass Kinder, die zu aggressiven Ausbrüchen neigten, „von den Lehrern systematisch geschützt“ würden. Wehre sich aber ein Kind, bekomme es einen Verweis. „Opfer werden hier zu Tätern gemacht und wenn die Eltern sich einschalten, bekommt das Kind von den Lehrern zusätzlichen Druck“, sagt ein Vater. Andere Eltern wissen gar nicht, was ihren Kindern genau geschah. So die Mutter des 13-jährigen Daniel*. Ihr Sohn leidet unter schweren Depressionen, muss in einer Tagesklinik behandelt werden. Sein Therapeut ist sicher, dass Daniel ein traumatisches Erlebnis in der Schule hatte. Doch aus Daniel – der die Brecht-Schulen ebenfalls inzwischen verlassen hat – ist kein Wort herauszulocken.
Bis zur sechsten Klasse nie Probleme gehabt
Die Eltern, die sich an die taz wandten, berichten, dass es bis zur sechsten Klasse keine Probleme gab an der Schule, die seit 2005 auch hochbegabte Grundschüler unterrichtet. „Die Mischung aus Hochbegabung und Pubertät ist aber eine hochexplosive Mischung“, weiß die Mutter von Johann*, der die Schule ebenfalls vor kurzem wechselte.
Hochbegabte Kinder gelten als schwierige Persönlichkeiten, die lernen müssen, mit ihrem Anderssein umzugehen. Einige von ihnen haben Kontaktprobleme, andere neigen zu Aggressivität oder machen absichtlich Fehler, um nicht aufzufallen. „Viele Lehrer der Schule sind keine ausgebildeten Pädagogen und haben keine Spezialausbildung für den Umgang mit hochbegabten Kindern“, klagt Johanns Mutter. Sie wären „völlig überfordert“ – trotz einer Klassengröße von höchstens 20 Kindern.
Die Schulleitung aber stelle sich taub, sagen die Eltern der Schulabgänger. Als im vorigen Jahr zwei Klassensprecherinnen mit dem Rektor über schwerwiegende Probleme in ihrer Klasse sprechen wollten, ließ dieser sie laut Bekundung beider Mädchen vom Sekretariat mit den Worten abwimmeln, er könne sich „darum nicht kümmern“.
Erstaunlich: Obwohl fast alle der nun abgegangenen Kinder hochbegabt sind, mussten die meisten auf ihren neuen Schulen eine Stufe tiefer eingeschult werden. „Mehrere Schulleiter haben uns mitgeteilt, sie nähmen überhaupt keine Brecht-Schüler, weil die Schule im Lehrplan weit hinterherhinke“, berichtet ein Vater. Das kann auch die Mutter der 13-jährigen Emilia* bestätigen, die ihre Tochter und deren Schwester im Frühjahr von der Schule nahm. Obwohl Emilia von Klasse acht in die siebte Klasse der neuen Schule gewechselt sei, „hat sie große Probleme dem Stoff zu folgen“, berichtet sie. Hatte Emilia auf der Privatschule stets gute Noten bekommen, brauche sie nun trotz Rückstufung Förderunterricht.
Brecht-Schulleiter Klaus Nemitz weist alle Vorwürfe zurück: „Gewalt und Mobbing gibt es an unserer Schule nicht“, sagt er. Roman sei „der einzige“ ihm bekannte Fall, wo ein Schüler von einem Mitschüler bedroht worden sei. Hier hätten, räumt Nemitz ein, „weder die Eltern, noch die Schule die Dimension der Probleme rechtzeitig erkannt“. Er sei allerdings „nicht bereit, sich von Eltern erpressen lassen, wenn diese den Rausschmiss eines anderen Schülers fordern würden“.
Den Brief des Kindes habe er nicht beantwortet, weil dieser „nach unserer Überzeugung vom Vater im Namen des Sohnes verfasst“ worden sei. Da der Vater bereits „Anwälte eingeschaltet hatte“, sei zu diesem Zeitpunkt „eine Eskalationsstufe erreicht“ gewesen, die „eine gemeinsame Problemlösung unmöglich gemacht“ habe. „Ansonsten“, sagt Nemitz, „arbeite ich stets bei offener Tür und spreche mit jedem, der auf mich zukommt.“
Rektor sieht zu hohe Erwartungshaltung
Den Eltern der Abgänger wirft Nemitz vor, „eine zu hohe Erwartungshaltung an die Schule“ gehabt zu haben. In der Mittelstufe träten „oft Probleme mit Leistungsanforderungen und Sozialverhalten“ auf, viele Kinder fielen in eine „Talsohle der Motivation“. Hochbegabte Kinder seien „hochsensibel, ihre Eltern hochkritisch“. Die Schule werde „von einigen Eltern für solche Schwierigkeiten allein verantwortlich gemacht“. Sie könne aber „nicht im Alleingang alle Probleme lösen, die manche Kinder in der Pubertät haben“, so Nemitz.
Auch den Vorwurf, viele Brecht-Lehrer seien für den Kontakt mit hochbegabten Kindern unqualifiziert, lässt der Rektor nicht auf dem Kollegium sitzen. „Wir bieten den Kollegen regelmäßig Weiterbildungsserien zur Arbeit mit Hochbegabten an“, sagt er. Deshalb gebe es an der Schule „so gut wie keinen Lehrer, der nicht entsprechende Zusatzqualifikationen hat“. Zudem hätten „95 Prozent unserer Lehrer“ das Zweite Staatsexamen.
Dass viele Abggegangene an ihren neuen Schulen trotz Rückstufung kein Bein auf den Boden bekämen, verwundert Nemitz indes nicht. „Hochbegabte Kinder arbeiten hier sehr selbständig in kleinen Klassen unter auf ihre Schwächen und Stärken zugeschnittenen Unterrichtsmethoden“, erklärt er. Der „Wechsel an eine konventionelle Schule“ könne deshalb für sie „ein Kulturschock“ sein. Eine Sicht der Dinge, der sich die Eltern kaum anschließen dürften.
*Namen geändert