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Archiv-Artikel

„Europa sollte aus den Fehlern Jugoslawiens lernen“

DIE SCHRIFTSTELLERIN Nataša Kramberger lebt seit 2004 in Berlin. In ihrem neuen Buch vergleicht die slowenische Autorin die Wendeerfahrungen hier mit denen in Slowenien, Serbien, Albanien und Kuba. Neben dem Aufbruch der jungen Generation sieht sie auch viel Enttäuschung

Nataša Kramberger

■ Slowenien: Geboren 1983 in Jurovski Dol bei Maribor an der jugoslawisch-österreichischen Grenze. Ihre Eltern, die Mutter Lehrerin, der Vater Mechaniker, leben noch in Slowenien.

■ Niederlande: Nach dem Beginn des Studiums der Kommunikationswissenschaften in Ljubljana absolvierte sie bis 2004 zwei Auslandsjahre in Utrecht im Rahmen des Erasmus-Programms.

■ Deutschland: Seit 2004 lebt Kramberger in Berlin und teilweise in Italien und Slowenien.

■ Brüssel: 2010 bekam Kramberger den Literaturpreis der Europäischen Union für ihren 2007 erschienenen Roman „Nebesa v robidah“ (Brombeerhimmel). Er ist noch nicht ins Deutsche übersetzt.

■ Lesung: Ihr neues Buch, „Mauerlos“, wird am 4. November um 19 Uhr in der slowenischen Botschaft am Hausvogteiplatz 3–4 vorgestellt.

INTERVIEW UWE RADA FOTOS PIERO CHIUSSI

taz: Frau Kramberger, erinnern Sie sich, was Sie am 25. Juni 1991 gemacht haben?

Nataša Kramberger: Natürlich. Da war eine offizielle Feier in meinen Dorf Jurovski Dol bei Maribor in Slowenien. Alle waren dabei, Jung und Alt. Die Dorfschule musste ein Kulturprogramm vorbereiten, da war ich dabei. Zusammen mit vier Freundinnen wollten wir zu einen Song von Tajči – einer jugoslawischen Popsängerin – einen Tanz auf die Bühne bringen. Und plötzlich hieß es, Tajči sei dafür nicht die richtige Sängerin.

Weil sie Kroatin war, jugoslawisch fühlte, und Ihr Land, Slowenien, am 25. Juni 1991 seine Unabhängigkeit erklärte.

Genau. Wir durften dann zwar tanzen, aber nur ohne die Musik von Tajči. Obwohl ich damals erst acht Jahre alt war, erinnere ich mich noch gut daran. Am nächsten Morgen kam im Fernsehen die Meldung, dass jugoslawische Flugzeuge in Belgrad gestartet seien und Kurs auf Slowenien nähmen …

der Beginn des Zehntagekrieges, der für Slowenien aber glimpflich ausging, wenn man ihn mit den anderen Jugoslawienkriegen vergleicht.

Ich bin zu meiner Mutter gerannt und habe sie gefragt: „Was passiert hier?“ Wir wohnten ganz oben im achten Stock in einem sozialistischen Block, und im Fernsehen hieß es, wir müssten alle runter. Ich war so sauer auf meine Mutti, weil sie meiner Meinung nach die Situation nicht ernst genug nahm. Ich war ja wie alle Kinder in Jugoslawien mit den Geschichten über heldenhafte Partisanen aufgewachsen und konnte nicht glauben, dass meine Mutti so uninformiert war. Offenbar hatte sie keine Ahnung, wie man sich in einem Krieg verhalten soll. Sie ging zu ihren Nachbarinnen, um Kaffee zu trinken. Wahnsinn!

In den nächsten Tagen wird Berlin den 25. Jahrestag des Mauerfalls feiern. Haben die beiden Ereignisse, am 25. Juni 1991 in Slowenien und am 9. November 1989 in Berlin, etwas Gemeinsames?

Es gibt viele Sachen, die tatsächlich ähnlich sind. Wenn man die Leute fragt: „Warum musste die Mauer fallen?“, oder: „Warum mussten wir raus aus Jugoslawien?“, dann hört man immer wieder ein Wort: Freiheit. Aber schon bald kommt die Frage: Was ist das denn, diese Freiheit? Sind wir jetzt freier? Was ist Freiheit wert, wenn es einem wirtschaftlich nicht so gut geht? Das sind Fragen, die man sich in Berlin ebenso stellt wie in Ljubljana.

Ihr neues Buch heißt: Mauerlos. Es ist eine Sammlung von Reportagen entlang des einstigen Eisernen Vorhangs.

Das Zentrum meiner Beobachtungen ist Berlin, wo ich seit 2004 lebe – dem Jahr also, in dem Slowenien der Europäischen Union beigetreten ist. Ich war damals 21 Jahre alt und habe sofort angefangen, mich mit der ehemaligen Teilung der Stadt zu beschäftigen. Vielleicht war die Berliner Mauer ein Medium, um über mich und meine Kindheit in Jugoslawien nachzudenken.

Sie waren für ihre Recherchen auch in Polen, Bulgarien, Serbien, Albanien, ja sogar in Kuba unterwegs. Haben Sie auch dort diese Enttäuschung gefunden?

Ja, und das wundert mich nicht. Nehmen Sie mich als Beispiel. Ich habe am 29. November 1989 – also genau 20 Tage nach dem Mauerfall – als letzte Generation in Jugoslawien den Pionieren von Tito mein Wort gegeben. Es war ein Versprechen, mich um eine solidarische Welt zu bemühen und in diesem Sinne groß zu werden. Nur wenige Jahre später wurde diese Solidarität gegen die sogenannte Wettbewerbsfähigkeit eingetauscht. Auf einmal musste ich statt Mitglied der Gesellschaft ein erfolgreiches Individuum sein.

Das war in Ostberlin nicht anders.

In meinem Buch kann man in einer Reportage aus dem Jahr 2005 lesen, wie ich einen Freund nach Marzahn begleitet habe, der dort Boxunterricht gab. Nach dem Unterricht, es war sehr kalt, bin ich mit der S-Bahn zurückgefahren. Ich hatte keine Fahrkarte, und plötzlich stiegen Kontrolleure zu. In der Reportage habe ich geschrieben: „Leute in Winterklamotten sind so solidarisch! Es dauert eine Menge Zeit, bevor man zwischen Mänteln, Jacken, Pullovern und Handschuhen eine Fahrkarte findet: Es gibt viele Taschen. Oder sehe ich jetzt schon die Solidarität, wo sie vielleicht gar nicht da ist?“ So ging es mir auch in Havanna und in Ruse in Bulgarien. Solidarität ist, wie auch Enttäuschung, immer etwas, das man individuell empfindet.

Nataša Kramberger, die Autorin, ist in all diesen Texten sehr präsent. Was ist das für ein Genre: Ist es noch Reportage oder schon Literatur?

Ich beschreibe es immer als literarische Reportage. Europa hat auch eine sehr schöne Tradition in diesem Genre, zum Beispiel der polnische Autor und Reporter Ryszard Kapuściński, der in gewisser Weise auch mein Vorbild war. Es ist ein Genre, wo du selbst dabei bist. Es ist wichtig, dass Journalisten rausgehen und die Welt nicht nur an ihrem Schreibtisch betrachten. Ich glaube nicht an einen objektiven Journalismus, denn für mich ist Journalismus eine Form des Kampfes: für eine klare, präzise Sprache, basierend auf eigenen Erfahrungen. Ich interessiere mich für das Leben, wie es sich leben lässt, und nicht, wie es sich vorzeigen lässt.

Mauerlos: So ist ja Ihre Generation aufgewachsen. Sie wird „Erasmus-Generation“ genannt oder „Generation Easy Jet“ und ist jene Generation, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs voller Enthusiasmus in dieses neue, größere Europa aufgebrochen ist. Sie waren selbst Erasmus-Studentin in den Niederlanden. Ist die Bilanz, die jeder für sich selber zieht, auch abhängig von der eigenen Generation?

Natürlich. Deswegen betone ich auch immer wieder, dass dies das Buch einer 1983 geborenen ist. Ich sehe Berlin und Europa mit den Augen meiner Generation. Das sind vor allem auch die Reiseerfahrungen. Es ist ja beinahe schon etwas Altmodisches, wenn man heute auf dem Weg nach Serbien noch einen Stempel in den Pass bekommt.

Wie hat Berlin Sie, die damals 21-Jährige, im Jahr 2004 empfangen?

Wunderbar. Ich war voll enthusiastisch. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass ich aus einem kleinen Dorf mit tausend Einwohnern komme; und auch Maribor, wo ich zur Schule ging, ist nicht so groß. Selbst Ljubljana ist klein im Vergleich zu Berlin und natürlich auch Utrecht, wo ich studiert habe. Und dann plötzlich diese riesige und offene Stadt. Prenzlauer Berg, wo ich gelandet bin, war damals noch anders als heute. Ich war mir damals sofort sicher, dass ich so schnell hier nicht wieder weggehe. Mein Eindruck war, dass die großen Veränderungen 2006 mit der Fußballweltmeisterschaft gekommen sind.

Warum eigentlich Berlin?

(lacht) Ich wusste nicht, was ich mit meinem Leben machen soll. Nach dem Studium in Utrecht sollte ich eigentlich zurück nach Ljubljana. Aber da hatte ich keine Wohnung mehr. Wie es der Zufall wollte, rief mich ein Freund an und sagte, er habe für einen Monat ein Zimmer in einer WG in der Schönhauser Allee frei. Also bin ich los und habe festgestellt, dass die Wohnungen in Berlin nur halb so viel kosten wie in Ljubljana. Warum um Himmels willen sollte ich dann zurück?! So fing das an mit Berlin.

Sie leben aber nur teilweise in Berlin.

Ich habe noch viele Projekte in Slowenien und in Italien. Aber 200 Tage im Jahr bin ich in Berlin. Berlin ist der Ort, an dem ich schreibe, wo ich zu Hause bin.

Wäre ein solches Zuhause auch in Hamburg oder München denkbar?

Das geht nur in Berlin. Als ich die Texte für mein Buch noch einmal durchgesehen habe, habe ich auch gemerkt, wie oft ich schrieb: Berlin ist nicht gleichbedeutend mit Deutschland.

Am 9. November werden Tausende Ballons am ehemaligen Mauerverlauf in den Himmel steigen. Feiert sich Berlin da selbst, oder ist die Stadt auch offen für die Erfahrungen, die die Menschen in Slowenien, Polen und den baltischen Ländern gemacht haben?

Ist das wirklich ehrlich, was da gefeiert wird, oder ist das nicht bloß Tourismusmarketing? Das ist eine Frage, die man sich stellen muss. Es gibt aber auch die ganzen Dokumentationen im Fernsehen, die die Teilung und den Mauerfall für die jüngere Generation noch einmal nachvollziehbar machen. Aber die gleiche Frage stellt sich in anderen Ländern. Immer nur in der Geschichte zu bleiben, verstellt den Blick auf die Gegenwart.

Sie haben sich selbst auch befragt, wie Erinnerung funktioniert, was die Teilung und der Fall der Mauer für Berlin bedeuten. Vor fünf Jahren waren Sie zwei Monate auf dem Berliner Mauerweg unterwegs.

Die Berliner Mauer und die ehemalige Grenze, die die Touristen sehen, also die East Side Gallery oder der Checkpoint Charlie, sind nur ein Stück dieser Grenze. 160 Kilometer Mauer, das muss man sich erst mal vorstellen. Ich glaube, dass da am Rande der Stadt viele Geschichten liegen, die immer noch nicht erzählt sind. Am Checkpoint Charlie ist alles erzählt.

Welche Geschichte hat Sie am meisten beeindruckt?

Dass so viele Leute gedacht haben: Diese Mauer wird für immer bleiben. Ich dagegen habe mich immer wieder gefragt: Wie konnten die Berliner zulassen, dass ihre Stadt einfach geteilt wird? Die Antwort habe ich bis jetzt nicht gefunden. Vielleicht ist es die Dimension: 160 Kilometer. Da hat ein Staat deutlich gemacht, wie wichtig ihm diese Abgrenzung ist. Das war eine Demonstration der Macht. Und auf der anderen Seite war die Ohnmacht der Menschen.

Kann man diese Macht und Ohnmacht mit den Gefühlen und Erfahrungen in anderen Ländern vergleichen?

Ich glaube, nein. Dafür sind die Erfahrungen zu verschieden. In Polen und Tschechien ging es um das Ende des Kommunismus, in Slowenien um die Unabhängigkeit, in Jugoslawien begann der Krieg. Ich glaube, es liegt in der Natur des Menschen, dass er seine Erfahrung, sein Leid immer in den Mittelpunkt stellt. Aber umso wichtiger sind Projekte, die ihm die Erfahrungen anderer näherbringen. Das gehört ja auch zur Vielfalt von Europa: Wir sollen verstehen, dass all das unsere gemeinsame Geschichte ist. Der Mauerfall gibt uns Mut. Wir haben alle die Kraft gespürt, die es uns ermöglicht hat, aufzustehen und diesen Weg zu gehen. Die Mauer niederzureißen. Das soll unsere gemeinsame Erfahrung sein: Wir haben gezeigt, dass Widerstand möglich ist. Immer. Jederzeit.

In die Freude über 25 Jahre ohne Mauer mischt sich auch das Erschrecken über das, was in vielen Ländern daraus geworden ist. Beispielsweise der Verlust demokratischer Errungenschaften in Ungarn. Blicken Sie eher optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft?

„Jeder hat jetzt seine eigene Erzählung. Dabei brauchen wir ein europäisches Schulbuch für Geschichte“

Wir haben zu lange Party gemacht und uns auf dem ausgeruht, was wir erreicht haben. Ich muss selber immer noch oft daran denken, wie viele Freunde aus Belgrad und Sarajevo meine Eltern vor dem Krieg hatten. Nach dem Krieg haben wir nie wieder von ihnen gehört. Klar, wir sind jetzt in der EU. Aber auf der anderen Seite stehen jetzt ganz verschiedene Geschichtserzählungen in den Schulbüchern. Eine slowenische, eine serbische, eine bosnische. Der Nationalismus wird sogar immer stärker, weil jeder – gerade auch in der Krise – das Gefühl hat, er muss jetzt für sich kämpfen.

Aber es gibt nun die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen und von dort auch das eigene Land mit anderen Augen zu sehen.

Das will ich auch nicht in Abrede stellen. Aber die Realität ist doch eine andere: Inzwischen arbeiten 20.000 Slowenen in Österreich, vor allem in der Gastronomie und in der Industrie – auch Leute mit Uni-Abschluss. Weil sie zu Hause keine Perspektive mehr sehen. Das ist vergleichbar mit den jugoslawischen Gastarbeitern, die vorher in Österreich oder Deutschland gearbeitet haben. Vielleicht noch ein Wort über Jugoslawien. Als junge Europäerin möchte ich das Recht haben, über die positiven Seiten Jugoslawiens zu reden, ohne sofort als die „junge Kommunistin“ abgestempelt zu werden.

Mischt sich bei Ihnen in die Freude über das Ende des Kommunismus und den Beitritt Sloweniens zur Europäischen Union Trauer über das Ende Jugoslawiens als eines übernationalen Staates?

Ich stimme jedenfalls nicht in den Reigen derer ein, die immer nur negativ über Jugoslawien reden – obwohl ich selbst dieses Jugoslawien gar nicht richtig kennengelernt habe. Ich denke, Europa muss stärker auf Jugoslawien schauen und analysieren, was dort passiert ist, damit man nicht dieselben Fehler mit der EU wiederholt.

Welche Fehler meinen Sie?

Der Nationalismus in Ungarn ist kein Einzelfall. Solche Tendenzen gibt es auch in Slowenien. Wenn die EU ihre Wirtschaftspolitik gegenüber den ärmeren Ländern fortsetzt, wird die Enttäuschung größer. Gerade war ich drei Wochen in Italien. Es gibt da neben dem Nationalismus eine zweite Abkehr von der europäischen Idee: Die hat mit der zunehmenden prekären wirtschaftlichen Situation zu tun.

Sie haben eine ganz persönliche Beziehung zu Italien: Ihr Freund stammt aus Mailand. Wenn man an den Eisernen Vorhang in Triest und das komplizierte Verhältnis zwischen Italien und Slowenien denkt, ist das eine interessante Konstellation. Spiegelt sich das auch im Privaten wieder?

Wir streiten sehr viel. Vor allem über Geschichte. Die Geschichte, die ich in der Schule gelernt habe, ist eine ganz andere Geschichte als die, die er in der Schule gelernt hat. Leider. So wird es wohl auch bleiben. Ein europäisches Schulbuch für Geschichte gibt es noch nicht. Auf der anderen Seite macht diese persönliche Perspektive auch Mut: Wenn Neugier da ist und der Wunsch, den anderen zu verstehen, kommt man schnell in einen Dialog, in dem das Andere gleichbedeutend neben dem Eigenen steht. Deswegen sind der Austausch und der Dialog so wichtig. Wenn wir über Mauern und Kriege sprechen, gibt es am Ende immer einen Menschen. Übrigens haben wir in Triest ein kleines Boot im Hafen liegen. Triest ist für uns die Mitte zwischen Slowenien und dem Rest Italiens.

Sie haben für Ihren Roman „Brombeerhimmel“ den Europäischen Literaturpreis gewonnen. Welche Rolle spielt die Kultur für diesen europäischen Dialog?

Als ich diesen Preis bekommen habe, habe ich gesagt: „Das ist für mich Europa.“ Gerade in der Sprachvielfalt liegt eine Stärke der Europäischen Union, und die Förderung der Literatur und der Kultur, auch in Ländern mit einer kleineren Einwohnerzahl, ist eine wichtige Aufgabe. Wenn wir uns mehr auf unsere Kunst und Kultur orientieren würden, dann wäre vieles einfacher. Denn das ist Europa, und nicht in erster Linie die gemeinsame Eurozone. Es gibt bei uns in Slowenien gerade eine Diskussion, ob Wirtschaft nicht schon in der Grundschule unterrichtet werden sollte. Was für ein Unsinn. Es müssen Fremdsprachen gelernt werden. Kunst und Kultur sind die regionalen Besonderheiten Europas.

Wo werden Sie den 9. November verbringen?

Nicht an der Lichterkette. Ich war schon vor fünf Jahren bei den offiziellen Feiern. Diesmal wird es eher privat.