„Scheidung ist mit dem Koran vereinbar“

MAROKKO Vor zwanzig Jahren gingen vor allem Frauen auf die Straße. Das brachte mehr Demokratie ins Land. Und einen Kulturkampf um das neue Familienrecht. Ein Report aus einem Frauenzentrum

Die Statistik schätzt: Zwei von drei Frauen werden misshandelt; 80 Prozent der Gewalttaten in Marokko spielen sich im häuslichen Bereich ab

AUS MARRAKESCH SIMONE SCHMOLLACK

Najat Oulami wischt sich den Schweiß von der Stirn, es ist heiß und stickig in dem kleinen, fensterlosen Büro. Für einen Moment ist Najat Oulami ganz allein. Das ist selten im Frauenzentrum Al Amane in Marrakesch. Jeden Tag kommen viele Frauen in das zweistöckige rot-braune Eckhaus. Manche wollen hier lesen und schreiben lernen, andere nähen und backen.

Das Frauenzentrum liegt an einer staubigen Kreuzung in Syba, einem der ärmsten und heißesten Viertel Marrakeschs. Touristen in der marokkanischen Reisemetropole verirren sich nicht hierher. Straßenhändler verkaufen Gemüse, Unterwäsche und Spitzendeckchen.

Najat Oulami, 31, trägt Jeans und ein eng gebundenes Kopftuch, sie ist dezent geschminkt. An der Wand im Büro hängt ein Plakat mit kleinen Zeichnungen. Auf einem sind eine Frau und ein Mann zu sehen, nebeneinander, zwischen ihnen ein Kind. Ein friedliches Bild. So sollte es sein in einer modernen, gleichberechtigten Ehe in Marokko.

Aber so ist es häufig nicht. Und für manche Frauen im Viertel ist Najat Oulami so etwas wie eine große Hoffnung. Die Frauen wollen ein anderes Leben, eines ohne Gewalt, Demütigung und Bedrohung. Najat Oulami will ihnen helfen, solch ein Leben zu bekommen, sie leitet die Anhörungsstelle für misshandelte Frauen im Al Amane. An manchen Tagen bitten bis zu sechs Frauen von Najat Oulami um Rat: Kann ich mich gegen meinen Mann wehren? Ich habe doch kein Geld, er hat doch alles. Kann ich ihn anzeigen? Was passiert dann mit meinen Kindern?

Das Statistische Bundesamt in Marokko schätzt, dass zwei von drei Frauen zwischen 18 und 64 Jahren von ihren Männern geschlagen, vergewaltigt und ökonomisch abhängig gehalten werden. 80 Prozent aller Gewalttaten in Marokko sollen sich im häuslichen Bereich abspielen. „Die Frauen wollen weg von ihren Ehemännern, aber sie wissen nicht, wie sie das machen sollen“, sagt Najat Oulami. „Viele glauben auch, dass es richtig ist, wenn ein Mann seine Frau schlägt. Weil das in der Tradition schon immer so war.“

Najat Oulami ist in Syba groß geworden, sie kennt die strengen Gesetze der Familie, sie spricht die Sprache der Straße. Aber sie hat gegenüber anderen einen gewaltigen Vorteil: Sie ist zur Schule gegangen und hat Jura studiert. 40 Prozent der Marokkanerinnen und Marokkaner sind Analphabeten, auf dem Land sind es sogar 70 Prozent. Woher sollen die Menschen wissen, was sich in ihrem Land verändert, welche Gesetze gelten und was inzwischen verboten ist? Und wie erfahren misshandelte Frau vom Al Amane?

Najat Oulami erzählt es ihnen. Gemeinsam mit ihrer Schwester Halima klopft sie in Syba an viele Haustüren. Halima Oulami, 34, ebenfalls Juristin, hat das Frauenzentrum vor acht Jahren gegründet. Die Oulami-Schwestern sagen den Frauen, dass ihre Männer kein Recht haben, sie zu verprügeln und zum Sex zu zwingen. Sie raten ihnen, lesen und schreiben zu lernen. Und sie erklären ihnen die Moudawana, das marokkanische Familienrecht.

Seit 2004, als das Gesetz in Kraft trat, sind beide Ehepartner gleichberechtigt für die Familie und den Haushalt zuständig, der Mann darf nicht mehr über die Frau verfügen. Männer können nicht einfach mehr die Scheidung einreichen und ihre Frauen aus dem Haus werfen. Umgekehrt dürfen Frauen sich nun auch scheiden lassen. Polygamie ist nur noch in Ausnahmefällen gestattet, das Heiratsalter wurde auf 18 Jahre heraufgesetzt.

Najat Oulami zeigt auf das Plakat mit dem friedlichen Paar. Sie sagt: „Wir machen Druck auf die Regierung, dass Männer auch tatsächlich für Gewalttaten bestraft werden.“ Halima Oulami war im Mai in der Hauptstadt Rabat. Dort hat sie beim Justiz- und Sozialministerium Vorschläge verschiedener Frauenorganisationen für die Verfassungsreform eingereicht, die der König heute am 1. Juli verkünden will: Vergewaltigung und Gewalt in der Ehe sollen künftig mit einem eigenen Gesetz bestraft werden können. Bislang werden die Delikte über das Zivil- und das Strafrecht abgehandelt. Außerdem sollen Frauen das gleiche Recht beim Erben bekommen wie Männer. Unverheiratete Mütter dürfen nicht mehr wie Aussätzige und Prostituierte behandelt werden. 11 Prozent aller Kinder werden in Marokko unehelich geboren.

Frauen wie Najat und Halima Oulami ist es zu verdanken, dass solche Themen „ganz oben“ verhandelt werden. Schon Anfang der neunziger Jahre gingen in Marokko vor allem Frauen auf die Straße, viel früher als in den anderen Ländern der „arabischen Revolution“. Der Druck von unten zwang König Mohammed VI. schon frühzeitig zu Veränderungen: mehr Demokratie, mehr Freiheit, mehr Grundrechte, vor allem für die Frauen.

So hatte Marokko im Gegensatz zu Ländern wie Tunesien, Ägypten, Syrien und Libyen während des „arabischen Frühlings“ seine „bleierne Zeit“ längst hinter sich. Mohammed VI. räumte ab 1999, als er nach dem Tod seines Vaters den Thron bestieg, mit manchen Verbrechen auf. Und er hörte sich an, was die Frauen zu sagen hatten. Das macht er seitdem regelmäßig. Er machte erstmals eine Frau zu einer Ministerin, eine weitere Frau zählt zu seinen engsten Vertrauten, und wie man hört, lässt er sich auch von seiner modernen, gleichstellungsorientierten Ehefrau beraten. Inzwischen gilt das marokkanische Familienrecht als das fortschrittlichste in der arabischen Welt.

Seit die Moudawana in Marokko gilt, tobt in dem muslimischen Land ein Kulturkampf zwischen Modernisierern und Fundamentalisten. Die einen, die Fortschrittlichen, sagen, es werde endlich Zeit für die völlige Gleichstellung der Frau, und es müsse Schluss sein mit der Gewalt in den Familien. Die anderen, die Orthodoxen, pochen auf den Koran und warnen vor einem „europäischen Lotterleben“. Selbst manche aufgeklärte Intellektuelle glauben, dass mit dem Scheidungsrecht der Familienfrieden massiv gefährdet ist. Nach Inkrafttreten der Moudawana stieg die Scheidungsrate sprunghaft an, damals ließen sich viele Frauen scheiden, die das bisher nicht konnten. Heute liegt die Scheidungsquote bei 10 Prozent.

Marokko ist ein islamisches Land. „Hier kann man nicht einfach Tabula rasa machen“, sagt Aicha el Hajjami. Sie ist Professorin für öffentliches Recht an den Universitäten Fes und Marrakesch. Sie sagt: „Wenn man behutsam mit dem Koran argumentiert, dann kann man etwas erreichen.“ Sie wendet einen „Trick“ an: Sie bezieht sich auf die Urschrift des Koran und auf überlieferte Aussprüche des Propheten. „Wenn man die genau liest“, sagt sie, „erkennt man, dass Frauen sich schon damals scheiden lassen konnten.“ Aicha el Hajjami, 59, ist die zweite Frau, die in Marokko vor internationalen Islamgelehrten reden durfte. Der König lädt während des Fastenmonats Ramadan traditionell Islamexperten zu sich ein, 2004 durfte die Familienrechtsexpertin sprechen. „Ich stand, und die Männer hockten zu meinen Füßen“, sagt Aicha el Hajjami, „was für eine Symbolik!“

Najat Oulami tritt vor die Tür des Frauenzentrums, sie atmet tief ein. Ein Moped knattert an einem voll beladenen Eselfuhrwerk vorbei. Zwei Mädchen von der anderen Straßenseite winken Najat Oulami zu. Manche Frauen, sagt Najat, können nicht mehr zu Hause bleiben, wenn sie ihren prügelnden Ehemann angezeigt haben, „der wird dann noch gewalttätiger.“ Bis die Staatsanwaltschaft tätig wird, kann es Monate dauern. Aber wohin sollen die Frauen in dieser Zeit? Im Al Amane können sie nicht schlafen, schon gar nicht mit ihren Kindern. Hotels können sie sich nicht leisten, bei Freunden ist es auch schwierig.

Najat und Halima Oulami haben vor einem halben Jahr Zufluchtzimmer angemietet, versteckt, niemand soll erfahren, wohin die Frauen flüchten. Die Zimmer werden durch Spenden bezahlt, so wie das Al Amane. Manchmal bitten Frauen hier auch nur um Unterschlupf für ein paar Tage. „Bis sie eine Arbeit gefunden haben, um unabhängiger zu sein“, sagt Najat Oulami.

Jetzt wollen die beiden Schwestern ein Frauenhaus gründen. Wie das bezahlt wird, ist völlig unklar, der Staat unterstützt das Projekt nicht. Es wird das erste Frauenhaus in Marokko sein.

➤ Ausland SEITE 11Hinweis: Bei der taz-“Reise in die Zivilgesellschaft“ nach Südmarokko wird immer auch das Frauenzentrum Al Amane in Marrakesch besucht; das nächste Mal zu Ostern 2012. Infos auf: www.taz.de/tazreisen