: Das unentdeckte Land
Wir schreiben das Jahr 2007. Dies sind die Abenteuer von ARD und ZDF. Sie sind aufgebrochen, eine unbekannte Zuschauergruppe zu entdecken: MigrantInnen
AUS MAINZ STEFFEN GRIMBERG
Plötzlich waren sie da. Kein Mensch hatte jemals von ihnen gehört, vom kleinen Volk der Metyktire in den unwegsamen Weiten des brasilianischen Regenwaldes, das sich jüngst erstmals der staunenden Weltöffentlichkeit gezeigt hat. „Wir wissen nicht, warum sie sich jetzt entschlossen haben, einen Kontakt herzustellen“, sagte ein Sprecher der brasilianischen Indianerbehörde.
Warum sich auch ARD und ZDF entschlossen haben, im Jahr 2007 die Existenz einer ihnen bislang ebenfalls kaum bekannten, dafür ungleich größeren Gruppe wahrzunehmen, erschließt sich ebenfalls nicht sofort. Doch mit der gleichen Begeisterung, mit der jetzt die Regenwaldbewohner zurechtkommen müssen, widmen sich nun die Öffentlich-Rechtlichen ihrer quasi neu entdeckten Kundschaft: den MigrantInnen.
Knapp 20 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen haben ihn schon, den Migrationshintergrund, bei jungen Menschen liegt der Wert noch höher. Die Älteren sind schon seit gut 40 Jahren da, was zumindest der GEZ nicht verborgen blieb, den Sendern mit Ausnahme einiger Spezialangebote wie Radio Multikulti in Berlin oder dem Funkhaus Europa des WDR aber herzlich wurst war.
Jetzt wird alles anders: Eine von der Hertie-Stiftung unterstützte gemeinsame Studie von ARD und ZDF präsentiert erstmals repräsentative Ergebnisse zur Mediennutzung von MigrantInnen (siehe Text rechts). Fazit: Die Privatsender liegen vorn, ARD und ZDF höflich formuliert irgendwo im unteren Mittelfeld – und wen das wundert, der ist selbst schuld. Denn MigrantInnen, vor allem die größte Gruppe aus der Türkei, nutzen das Fernsehen vor allem zur Entspannung – „zur Gefühlsregulierung“, wie das im Neudeutsch der Medienforscher heißt. Es geht um leichtere Kost sowie US-Serien, und so liegen eben ProSieben und RTL in der Zuschauergunst ganz weit vorn – und selbst bei den TürkInnen nur knapp hinter den landsmannschaftlichen Angeboten wie Euro D/Kanal D, Show TV oder ATV.
„Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, das darf man nicht verhehlen, erreicht Migranten schwächer als das deutsche Publikum“, sagt bei der Studien-Präsentation auf dem ZDF-eigenen Mainzer Lerchenberg die ZDF-eigene Medienforscherin Mignon Walter. Aber man habe „besser als gedacht“ abgeschnitten, so sagt es jedenfalls wenig später Intendant Helmut Reitze vom Hessischen Rundfunk als ARD-Vertreter, und ein Ergebnis immerhin stimmt alle froh: Nennenswerte Parallelgesellschaften gibt es nicht. MigrantInnen „werden durch die deutschen Medien erreicht“, sagt ZDF-Chef Markus Schächter, die „Angsthypothese“ vom medialen Ghetto darf in die Mottenkiste.
Doch spätestens wenn Schächter dann dreimal wiederholt, dass man sich „beim ZDF seit anderthalb Jahren intensiv mit dieser Problematik“ auseinandersetze, ist sie wieder da, die Absurdität des Ganzen: 2005 hat zwar die Einführung des Migrationsbegriffs in der amtlichen Statistik für Furore gesorgt – plötzlich gab es nicht mehr nur In- und Ausländer. Doch ein Einwanderungsland ist Deutschland nun mal schon etwas länger, auch wenn Politik wie Öffentlich-Rechtliche da lange Zeit anderer Meinung waren. Dass ARD und ZDF die Realitäten verkannt haben, rächt sich jetzt, auch wenn Schächter für seinen Sender die Parole von der „Mainstream Diversity“ ausruft, und, ja doch, im ZDF-Krimi-Erfolg „Kriminaldauerdienst (KDD)“ der heimliche Hauptdarsteller ein Türke – und sogar Hauptkommissar ist.
In seinen beiden Edelkategorien Fernsehfilm und teure (Krimi-)Serie hat das Fernsehen neue gesellschaftliche Realitäten tatsächlich schon bemerkt. Doch der Rest des Programms ist noch längst nicht im neuen Deutschland angekommen – ein Kommentator namens Birand Bingül bei den ARD-„Tagesthemen“ oder Aiman Abdallah aus dem ProSieben-„Galileo“-Kosmos sind nur Einzelfälle. Zumal Integration ein beidseitiger Prozess ist: Es geht ja nicht nur darum, Einwanderer auf den sanften Schwingen der TV-Droge heimzuholen. Es gilt genauso, die prägende Kraft des Fernsehens – vor allem der Unterhaltungsserien – zur gesellschaftlichen Hebung der Ureinwohner zu nutzen. In diesem Sinne sind Serien wie „Alle lieben Jimmy“ (RTL) oder „Türkisch für Anfänger“ (ARD) bestes Bildungsfernsehen, Zielgruppe: deutsch.
Aber das reicht längst nicht aus. Auch wenn die Öffentlich-Rechtlichen jetzt verkünden, ab sofort beim Nachwuchs „vor und hinter der Kamera“ (Schächter) aufzustocken, beim Hessischen Rundfunk laut Reitze gar „in jedem Volontärkurs ein Mensch mit Migrationshintergrund“ zu finden ist: Bislang liegt der Gesamtanteil beim ZDF unter zwei Prozent. Nach ihren vollmundigen Ankündigungen sollte man die Sender jetzt immerhin in Sachen Ausbildung beim Wort nehmen.