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Archiv-Artikel

Hinreichend wiedervereinigt

TAZ-SERIE MAUERFALL (TEIL 2) Wir standen im Schlafanzug auf dem Balkon am Morgen, sahen den Strom der Menschen und meine Mutter heulte vor Glück: ein Blick auf den Mauerfall und die Zeit davor in Neukölln

Buch und Lesung

■ Der Text auf dieser Seite ist dem Sammelband „Welche Mauer eigentlich? Texte zu 1989 und 1990“ entnommen. Herausgegeben von Falko Hennig und Alessandra Schio, erscheint er im Bebra Verlag, hat 144 Seiten und kostet 9,95 Euro. Darin erinnern sich 15 zeitgenössische Schriftstellerinnen und Schriftsteller literarisch und essayistisch an die Jahre 1989 und 1990. Neben Frank Sorge unter anderem Thomas Brussig, Kirsten Fuchs, Annett Gröschner, Uli Hannemann und Christoph Hein. Die Buchpremiere findet am 9. November um 20 Uhr im Roten Salon der Volksbühne statt.

VON FRANK SORGE

Ich kam im Schlafanzug auf den Balkon und sah die Meile, die Sonnenallee voll mit Menschen, dicht gedrängt auf dem Bürgersteig und auf der Straße. Ein Strom hinein in die Stadt, meine Sonnenallee, am 10. November, und am 11., am 12. und so weiter. Die Mauer war auf, bestätigte der Fernseher, aber wer musste schon fernsehen, wenn er es nah sah? Ich musste wohl zur Schule, aber hin kam man eh nicht, nicht über diese Sonnenallee. Hin zum Übergang ging ich, in diese Richtung kam man gut voran die paar hundert Meter, und ich fand Jubel. Das Herz zerriss, als es aufging, ich jubelte mit und trommelte auf die Trabant.

Mein Kiez war die Köllnische Heide, ein halb ummauertes Märchenland am Grenzübergang. Kaum mehr als die Busse, die wendeten, fuhr hier auf den Straßen, und wir spielten am grünen Streifen der Mauer, durchquerten die Grünanlagen, die wucherten, und fanden Egel im stehenden Wasser des Heidekampgrabens.

Wir erzählten Geschichten, von Agentenkoffern, vergraben und vergessen, und von den Nachbarn gegenüber, die sich nicht auf ihren Balkonen zeigen durften, wollten sie dort nicht erschossen werden. Wir sahen skeptisch zu den Türmen, die hinter der Mauer aufragten, was passierte wohl hinter den verspiegelten Fenstern, und hatten sie ständig die Waffen auf uns gerichtet?

Drüben sah es anders aus

Oder wir spielten Touristen und gingen auf den Aussichtsturm, einen hölzernen Ausguck über die Grenze, gleich am Schild „You are leaving the American Sector“. Und ich sah dort hinüber, das letzte Stück Sonnenallee, und es war alles so anders. Selten fuhren Autos heran und es war kein Mensch auf der Straße. Es gab keine Kaugummiflecken und keine Hundescheiße wie bei uns überall, in Neukölln, ihr Pussies. Warum war es drüben so sauber?

Wir hatten einen Park mit verwunschenem Wasser und einem Märchenbrunnen, wir hatten die tote S-Bahn, deren Gleis hier endete. Und dort war es gruseliger als an unserem Mauerloch, dort lag ein toter Bahnhof mit eingemauerten russischen Soldaten, Löchern im Boden. Dort waren auch die Schläger, die Raucher unter den Kindern, die starken Halbstarken, und nicht ohne Risiko war es dort, aber was war was ohne Risiko? Halb so spannend, man warnte uns vor Obdachlosen im Park, Drogenspritzen am Bahnhof und vor den Exhibitionisten.

In dieser Zeit hörten wir „TKKG“, „Fünf Freunde“ und „Die drei ???“, und was nicht sonst noch alles, aus Raum und Zeit, und Riccardo, heute mein Facebookfreund, hatte sogar Zombiehörspiele – so spannen wir Pläne, den Exhibitionisten zu enttarnen, ihn aufzudecken, und dann war da doch zu viel Erschrecken. Irgendwen kannten wir, die waren betroffen, das machte betroffen. Wir krochen in jede Lücke in den Zäunen, wir hatten geheime Wege durch das Märchenland, Abkürzungen. Wir hatten die Hänselstraße, und Gretel hatte eine und Rübezahl, und wir hatten den Venusplatz, die Einhorn- und die Widderstraße. Und wir hatten den Krebsgang vor Günter Grass, er lief an der Bahn lang und macht das noch heute.

Alles ein einziger Stau

Wir hatten Kastanien in rauen Mengen, im Herbst, an der Allee und im Park. Und jetzt hatten wir sie nicht mehr für uns allein, jetzt strömten die Menschen, die Straßen ein einziger Stau und man stieg in irgendwelche Reisebusse, um Richtung Hermannplatz zu fahren oder fuhr mit dem Fahrrad. Und nichts war schlecht, es gab absolut nichts, was daran schlecht war, ich erinnere mich an nicht ein schlechtes Wort, nicht eine blöde Situation, nicht ein Unbehagen, nicht an ein schlechtes Gefühl. Sicher gab es sie, aber sie haben mich nicht interessiert, wenn es sie gab, und das hat sich nicht geändert.

Aber danach ging es los, über die Jahre, und in unserer Nachbarschaft wuchs eine braune Ecke, aber da ging es weniger um den Osten, den offenen Osten, sondern um den Nahen Osten, den etwas ferneren Nahen Osten. Wir wohnten hier alle sozial, hier im modernen Wohnungsbau, dem sozialen, den Betoninseln der siebziger Jahre. Ali und Inge, Manfred und Mohammed, das war nett, fand ich immer.

Das Klima wurde auch mal rauer, aber woran das lag, war ja klar im Schatten des Arbeitsamtes Süd und im Ghetto der Hochhaussiedlung. Mindestens am Alkohol und dem Fernseher, an den Sozialfällen, den Elenden und Armen. Man sah immer hin, aber man wusste auch, wann man lieber aus der Schusslinie ging. Ich war einer der schnellsten Läufer weit und breit, eine Eigenschaft, die mich aus beinahe jeder misslichen Lage bringen konnte.

Wir standen im Schlafanzug auf dem Balkon am Morgen, sahen den Strom der Menschen und meine Mutter heulte vor Glück. Vermutlich weinten wir alle mit, und machen es immer noch, denn das war auch Geschichte unserer Geschichte, der Familie aus der Uckermark, meiner Großmutter und ihrer kleinen Tochter. Die war so alt wie ich jetzt, als wir den Strom der Menschen auf der Sonnenallee bejubeln, als sie als Letzte des Familienzweiges den Weg durch die Mauer nach Westberlin fanden, mit Fluchthelfern aus dem fernen Amerika.

Oma mit falschem Pass

Meiner Großmutter hatte man irgendwelche Drogen verabreicht, um die unglaubliche Angst zu unterdrücken, von den Grenzern erwischt zu werden. Man hätte sie wohl eingesperrt, ihr die Tochter entrissen und was nicht noch sonst Schlimmeres, und ich hoffe, es ist ihr nicht ganz klar gewesen, was hätte passieren können, denn diese Angst muss unerträglich sein. Aber sie trug es mit Fassung, scherzte wohl sogar mit den Grenzbeamten und reichte ihnen den falschen Pass, auf dem sie ihre Schwester war. Dort war der richtige Tag gestempelt, und der Pass sah richtig aus, jedenfalls war er richtig gut gemacht und reichte, sie stiegen im Westen in einen Mercedes, die Familie war vereint und das Land abgetrennt.

So ging mit dem Gang der Geschichte dann auch diese Geschichte zu Ende, und sie ging gut aus. Bald in der neuen Zeit wurde ich pubertär und verliebte mich in den Osten, Mädchen aus Schöneweide und Adlershof, von KW bis Falkensee und in fernere Orte wie Leipzig und Dresden wanderte mein Herz, und bis heute, wenn ich an Marzahn denke, denke ich an die Liebe. Wann immer jemand in den letzten 20 Jahren versucht hat zu raten, ob ich aus dem Osten oder dem Westen komme, riet derjenige falsch, ich fühle mich seitdem hinreichend wiedervereinigt.