die harpyie von EUGEN EGNER :
Als ich Hans am Abend besuchte und seine neue Favoritin kennenlernte, wusste ich auf den ersten Blick Bescheid. In seinem Wohnzimmer saß etwas, das man für eine attraktive, junge Frau halten sollte – und das Hans offenbar auch dafür hielt.
Es bedachte mich, nachlässig grüßend, mit einem kurzen, bohrenden Blick, mit dem es wohl eilig herauszufinden versuchte, ob ich es durchschaute, ließ sich das Ergebnis dieser Überprüfung jedoch nicht anmerken, sondern widmete seine Aufmerksamkeit sogleich wieder einem Gegenstand, der vor ihm auf dem Couchtisch stand und aussah wie eine aufgeklappte Schmuckschatulle von vielleicht dreißig Zentimetern Seitenlänge. Aus deren Inneren drang pausenlos ein gut hörbares befremdliches Zirpen und Dudeln, das mir innerhalb kürzester Zeit auf die Nerven ging. Das Wesen fingerte, anscheinend einem Zwang gehorchend, an dem Kasten herum, berührte ihn immer wieder an bestimmten Stellen, wodurch meine spontane Diagnose nur bestätigt wurde.
Hans indessen bemerkte nichts. Bei unserem letzten Gespräch hatte er die Schönheit seiner Angebeteten in den höchsten Tönen gelobt und gar der einer berühmten Schauspielerin gleichgesetzt. Er war absolut blind gegenüber der Wirklichkeit. Lediglich die Geräusche aus dem Kasten störten ihn, weshalb er so freundlich wie möglich bat: „Teuerste, könntest du das bitte ausschalten oder leiser drehen?“ Die Angeredete wurde blass. Ich konnte förmlich sehen, wie es in ihr arbeitete. Die Erfüllung der schlichten Bitte schien für sie eine existenzielle Bedrohung darzustellen, andererseits durfte sie Hans durch eine Weigerung nicht unnötig verärgern.
In dieser Sekunde war es mir noch weniger möglich nachzuempfinden, was mein Freund in dem garstigen Gnom mit Unterbiss sah, der jetzt wie ein in die Enge getriebenes Raubtier fauchte und hyänenhafte Hauer bleckte. Ich fürchtete bereits, es werde uns demnächst anspringen. Stattdessen fing es sich aber, stellte erstaunlicherweise sogar das Gezirpe und Gedudel ab. Allerdings nur für ein paar Minuten. Hans kam nicht noch einmal auf die Störgeräusche zurück, vielleicht hörte er sie nicht mehr.
Leider wollte es mir nicht gelingen, auf entspannte Weise an der Unterhaltung teilzunehmen, die in Gang zu halten der gutgelaunte Hans sich alle Mühe gab. Seine Geliebte trug wenig dazu bei, sondern spielte an ihrem Kasten herum. Mir wurde immer unwohler. Bald spürte ich deutlich, wie meine Hirnstrommuster abgetastet wurden und ein fremder Wille versuchte, in meine intimsten Bewusstseinsbereiche einzudringen. Etwas züngelte schamlos um meinen Verstand herum. Auf Gebote der Höflichkeit keinerlei Rücksicht nehmend, sprang ich auf und verabschiedete mich hastig.
Zu Hause nahm ich mir vor, Hans über seine gefährliche Verstrickung aufzuklären. Ich war ganz sicher, in einem Buch über fremde, feindliche Lebensformen gelesen zu haben, was es mit der betreffenden Spezies auf sich hatte. Um Hans diese Informationen schwarz auf weiß präsentieren zu können, durchsuchte ich das Buch mehrmals gewissenhaft, konnte aber die Passage, der ich mein Wissen verdankte, nicht wiederfinden. Also sagte ich nichts.