Gefährlich unscheinbar

AUSSTELLUNG Die Galerie Kehrer präsentiert Fotografien von Eva Leitolf. Sie zeigen Orte, an denen Migration den Alltag bestimmt

Eva Leitolfs Bildern ist eine stille Nachhaltigkeit inne. Dies verstört umso mehr

VON BRIGITTE WERNEBURG

Die Galerie, die der Kehrer Verlag aus Heidelberg in der Potsdamer Straße bezogen hat, ist ein geräumiger und dank ein paar Seitenfenstern auch lichtdurchfluteter, langer Schlauch. Auf einer den Wänden entlang gezogenen Leiste sind 22 Fotografien aufgestützt, große Abzüge im Format 76 x 62,6 Zentimeter. Sie zeigen merkwürdig menschenleere Idyllen, Waldstücke im Morgenlicht, Dorfstraßen, Parkwege, Strandabschnitte, dazu alltägliche Szenarien wie ein abgeerntetes Maisfeld, einen Hochsitz im Abendlicht oder einen Bahnübergang bei Nacht. Trotz all der kühlen Schönheit der Aufnahmen: So recht erschließt sich nicht, was die mit Codes wie PfE1150-DE-08911 versehenen Motive wirklich bildwürdig macht.

Die Aufnahmen stammen von Eva Leitolf. Die Fotografin wurde mit ihren Serien „Deutsche Bilder“ bekannt, ihrer Spurensuche an den Orten in Deutschland, an denen es zu fremdenfeindlicher Gewalt kam. Ähnlich verhält es sich auch mit „Postcards from Europe 10/14. Work from the ongoing archive“, den jetzt in Berlin gezeigten Fotografien. Sie sind nicht die Postcards des Titels.

Gestapelte Postkarten

Das sind wirklich die großzügig zum Mitnehmen neben die jeweilige Aufnahme gestapelten Postkarten mit einem mehr oder weniger kurzen Text. „Playa de los Lances, Tarifa, Spanien 2009“ steht unter PfE0238-ES-190109: „In einem schweren Sturm am 1. November 1988 sinkt ein Boot mit 23 marokkanischen Einwanderern bei Tarifa. Am Strand Los Lances werden zehn Ertrunkene angespült. Vier Menschen überleben, neun bleiben verschwunden.“ Sichtlich sind die Postkarten integraler Bestandteil der Fotoarbeit, für die Eva Leitolf seit 2006 immer wieder an die Grenzen Europas reist. An diejenigen Orte, an denen das Thema Migration, wie die oben zitierte Postkarte belegt, mehr oder weniger konfliktreich den Alltag bestimmt.

Wie bei ihren deutschen Bildern findet und recherchiert Eva Leitolf auch ihre europäischen Tatorte über die Zeitungslektüre, dazu wertet sie Statistiken und Polizeiprotokolle aus, und sie führt eigene Interviews mit illegal beschäftigten Erntearbeitern, örtlichen Polizeibeamten oder Mitarbeitern von Hilfsorganisationen. Diese Quellen sind auf den Postkarten immer genannt.

Provokant zielt Leitolf mit ihrer Langzeitdokumentation haarscharf an der gewohnten Medienberichterstattung vorbei. Anders als im Nachrichtenformat illustrieren ihre Fotografien nicht die Vorfälle, von denen der Text berichtet. Sie denunziert die Engführung von Nachricht und Bild, die suggerieren will, wir seien an Ort und Stelle, die uns emotionalisieren und schockieren sollen mit dem visuellen Dokument von Gewalt und Tod.

Eva Leitolfs Bilder verfügen über eine andere Kraft: ihre stille Nachhaltigkeit. Gerade weil die Wahl ihres Bildmotivs nicht unmittelbar einsichtig ist und sich entsprechend erst durch die Lektüre der Postkarte erschließt, wird das Bild umso eindringlicher. Ihre Harmlosigkeit verstört umso mehr, als man erfährt, wie viel Leid, Schmerz und Tod die Idylle erfahren hat. Das Bild der Idylle ist wichtig. Der Text allein ist nur Nachricht, hundertmal gehört in wechselnder Benennung von Ort, Zeit und Opferzahlen. Dagegen warnt uns das Bild des Liegestuhls an Bord eines Schiffs, das der Text als eine Fähre benennt, für immer: Nein, es gibt keinen unschuldigen Ort.

Und ja, nach der Begegnung mit Eva Leitolfs „Postcards from Europe“ beschleicht einen der Verdacht, ein Ort sei desto gefährlicher, je unscheinbarer, freundlicher er uns erscheint, je mehr er ein Allerweltsort ist, wie man so schön sagt. „Am 10. Januar 2009 setze ich mit der Fähre ‚Juan J. Sister‘ vom Hafen Melillas, einer der beiden spanischen Enklaven in Marokko, in sieben Stunden nach Almeria, Spanien, über. Der Preis für die Passage beträgt 19,20 Euro. Laut der Organisation Fortress Europe sind zwischen 1988 und 2007 mindestens 14.714 Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa gestorben. Davon seien 10.740 im Mittelmeer sowie im Atlantischen Ozean ertrunken, unterwegs nach Spanien. Tagebuch, 10. 1. 2009, Almeria; Der Spiegel, 7. 5. 2008; Fortresse Europe Presseerklärung, 10. 2. 2010.“

■ Bis 30. 11., Kehrer Berlin, Potsdamer Str. 100, Mi.–Sa. 11–18 Uhr