Mein deutscher Sommer

Es war 1985, es war Ferienzeit, und ich saß fest im völkischen Ludendorff-Jugendlager. Und dann auch noch Volkstanz!

Die Hitler-Jugend (HJ), gegründet 1922 als „Jugendbund der NSDAP“, war die Nachwuchs- und Ausbildungsorganisation der nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 wurde die HJ aufgelöst.

Nur sieben Jahre später, 1952, entstand aus einem Zusammenschluss verschiedener rechter Jugendgruppen die Wikingjugend (WJ), welche sich in Ausrichtung und Erscheinungsbild stark an ihrem Vorbild, der HJ, orientierte. Die WJ wurde letztgültig 1999 vom Bundesverfassungsgericht verboten.

Als Nachfolgeorganisation der WJ kann die Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ) gewertet werden, deren mögliches Verbot gerade diskutiert wird (taz berichtete).

Der „Bund für deutsche Gotterkenntnis“, die „Ludendorffer“, wird vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft.

VON EIKE GREVE*

„Im Frühtau zu Berge wir ziehn!“ – Die Ziehharmonikaklänge reißen uns pünktlich um sechs Uhr aus dem Schlaf. Ulrich, der Lagerleiter, walzt durch den Schlafraum der Jungs, das „Adlernest“. Aufstehn, Jungdeutschland! Wir krauchen aus den Stockbetten, die dichtgedrängt auf dem Dachboden des abgeschiedenen alten Fachwerkhauses „Hohenlohe“, irgendwo in der baden-württembergischen Pampa, zusammenstehen. Ich penne als Einziger auf einer Matratze am Boden, denn ich bin neu in der „Gemeinschaft“ – einem der alljährlichen völkischen Sommerlager des „Bund zur Gotterkenntnis Ludendorff e. V.“ Wir schreiben das Jahr 1985. Die Mädchen haben einen eigenen Schlaftrakt, die „Bärenhöhle“ im ersten Stock.

In der Kniebundhose zum Morgenappell

Waschen, dann Frühsport. Der Gang zum Waschraum ist der erste Spießrutenlauf des Tages. Ich kenne keinen, bin übergewichtig, habe Pickel, Pubertät eben … ein Stück Seife wird geworfen … ausziehn, abseifen, natürlich nur kaltes Wasser. Wie stellen uns draußen auf – der Größe nach. Appell. Dann Laufen – und bald die Frage: Was mache ich eigentlich hier?

Ich bin dreizehn Jahre alt und hatte mich von Peter, unserem bekanntermaßen völkisch engagierten Onkel, nach jahrelangem Bedrängen zu einem Besuch dieses „Sommerlagers“ breitschlagen lassen. Es ist nicht so, dass ich nicht gewusst hätte, was mich da erwartet. Onkel Peter war stramm rechts, 200 Prozent deutsch, und begeisterter Lagerleiter bei den „Ludendorffern“. Hier, so sein ständig wiederholtes Credo, würde ich mal „Gemeinschaft“ erfahren, richtige Freunde kennenlernen. Volkstanz und Sport, Liedersingen, Fahnenschwingen. Kein Fernsehen, Radio oder Zeitung. Dafür hatte er mir eigens eine lederne Kniebundhose samt rot-weiß kariertem Oberhemd und andere Utensilien (zum Beispiel mein erstes Necessaire inklusive Nähzeug!) gekauft. Außerdem bekam ich von dem Knauser damals für mich unvorstellbare 50 Mark Taschengeld zugeteilt. In diesem deutschen Niemandsland, so stellte ich aber bald fest, waren sie nur ein Stück nutzloses Papier, denn kaufen konnte ich hier nichts …

Das in der Nähe von Crailsheim, im Tale des Flusses Jagst gelegene Fachwerkhaus des Ludendorff-Vereins kannte ich schon. Fast jede Weihnachten fuhren wir dorthin zur Sonnenwendfeier. Da musste man dem Knecht Ruprecht etwas aufsagen (auch nicht gerade angenehm), bekam dafür „Apfel, Nuss und Mandelkern“ und pilgerte dann, als Höhepunkt der „Deutschen Weihenacht“, mit Fackeln in den Händen, zum großen Sonnenwendfeuer, wo im Flammenschein „Feuerreden“ gehalten wurden. Deren Inhalt schenkte ich damals freilich wenig Beachtung. Eines war jedoch immer fester Bestandteil: Das Absingen des Deutschlandliedes mit allen drei Strophen. Ich sang sie immer mit. Das alles fand statt im Schatten dieses unheimlich-urigen Fachwerkhauses, neben dem sich noch ein kleines Bauerngehöft befand, dann aber weit und breit nichts mehr. Zugegeben, es hatte was. Als Kind fand ich es irgendwie gemütlich – war aber jedes Mal froh, wenn es dann spätabends wieder nach Hause ging, bevor der harte Kern seine Volkstanzsessions einleitete.

Diesmal musste ich bleiben.

Die meisten Jugendlichen waren nicht das erste Mal da, einige kannte ich vom Sehen. Und natürlich hießen alle Gundolf, Dietbert, Ingemar und Dietlind, Gudrun, Heidrun oder Imke. Auch gab es insgesamt dreimal „Hermann“. Christliches war verpönt, westliche Popkultur nicht geduldet – so bekam ein Mädel umgehend Ärger, als es wagte, ein Mickey-Mouse-Sweatshirt zu tragen. Schon bald sah man sie wieder im Dirndl.

Bitte keine amerikanische Negermusik!

Lagerleiter Ulrich war ein hagerer und stoisch wirkender Mittvierziger und für die männlichen Lagerinsassen, etwa zwanzig, verantwortlich; die Mädchen wurden von einer deutlich älteren Renate betreut. Die Frau erinnerte in ihrer hochgeschlossen-aristokratischen Art, wenn ich zurückdenke, ein wenig an die unselige Gründerin des Ludendorff-Vereins, Dr. Mathilde L. Ihrer verquasten „Philosophie“ nämlich – von reinem Volkstum, dem „Triumphzug der Physik“ oder dem (selbstverständlich nur durch Rassereinhaltung zu erlangenden) „Göttlichen“ – huldigte der Verein. Der Name des ollen WK 1-Generals war für die gewiefte Emporkommerin (welche angeblich vorher auch versucht hatte, sich an Hitler ranzumanchen!) vor allem Publicity. Den Lagerleitern war noch jeweils ein jüngerer Betreuer untergeordnet. Bei den Jungs ein gerade seinen Wehrdienst ableistender, etwas linkisch wirkender Ingo. Er erzählte uns mal von seinen Leiden in der Kaserne, wenn seine rücksichtslosen Kameraden im Radio „amerikanische Negermusik“ anstellten. Auch lustige Tipps für Streiche, die man den Mädchen spielen konnte oder sollte, hatte er parat – zum Beispiel einen Eimer Pferdeäpfel in deren Schlafgemach platzieren … ansonsten war er aber langweilig.

Der Tagesablauf war fest geregelt: Waschen, Frühsport, Frühstück (ausschließlich Müsli – auch auf gesunde Vollkornernährung wurde penibel geachtet!), Singen, Volkstanz, deutsche Schrift (damit meine ich Sütterlin-Fraktur, ich beherrsche sie heute noch) – und: „Lebenskunde“, also allerlei Abstrus-Ideologisches. Da ging es dann von den Wikingern und ihren „Thing“-Treffen über die Tugenden des „Alten Fritz“ und den Lauf der Sterne bis hin zur Schlacht von Tannenberg, wo Old Ludendorff tatsächlich mal einen Sieg errungen hatte („sonst wär’ Deutschland schon im Ersten Weltkrieg an die Russen gefallen …!“) – inklusive eines sofort auswendig zu lernenden Lobliedes: „… schlug die Schlacht bei Tannenberg – das war großes Feldherrnwerk!“.

Hierbei konnten sich einige Lagerveteranen schön profilieren. So erinnere ich mich, dass uns ein weiterer Ingo (auch von denen gab es hier mehrere) marschierenderweise die verschiedenen Stechschrittarten erklärte.

Die markanteste Figur in der Lagerhierarchie war für mich jedoch ein drahtiger, blond gelockter Hermann, anscheinend schon ein Ludendorff-Veteran und bestens vertraut mit den täglichen Abläufen. Ein unangenehmes, schwäbelndes Großmaul, das mich anfangs ziemlich piesackte. Er trug des Öfteren und als Einziger die martialisch-schwarze Montur der Wikingjugend – der gehörte er ebenfalls an. Ich erinnere mich noch, wie er mir – bei einem späteren Sonnenwendtreffen – mal die alles entscheidende Gretchenfrage stellte: „Und? Wie stehst du zu sechs Millionen?“ Da trug er ebenfalls Schwarz, nicht ohne von den Alten stolz beäugt zu werden. Es war – gottlob – unser letztes Gespräch …

Er beherrschte das perfekte Fahnenschwingen und demonstrierte dies auch gerne, drehte und warf das buntbestickte Banner mit dem deutschen Adler hoch in die Luft, fing es wieder auf, führte es hinter den Rücken. Später gesellten sich die Trommler dazu. Diese Disziplin war Teil eines am Ende des Lagers veranstalteten Wettbewerbs dreier Gruppen, benannt nach Regionen, die mir damals – es war noch vor der Wende – herzlich wenig sagten: Es traten gegeneinander an – die „Brandenburger“, die „Schlesier“ und – natürlich – die „Preußen“ (angeführt von Wiking-Hermann). Man maß sich im Volksliedersingen („Ich hab mich ergeben, mit Herz und mit Hand, dir Land voll Lieb und Leben, oh herrlich’ Hermannsland“), dem von mir besonders gehassten Volkstanz (das Polkagehopse war eine Qual) sowie Gelände- und „Wissens“spielen.

Ach ja, der Volkstanz. Eine besonders peinliche Situation ist mir noch gewärtig. Wie gesagt, das völkisch-rhythmische Reihum war meine Sache nicht. Bei einem großangelegten Rundtanz passierte es. Wir hatten uns alle an den Händen gefasst, bildeten einen Kreis, welcher sich immer schneller zu drehen begann. Zu meiner Linken: Lagerleiterin Renate. Das Kreisen wird schneller, Ulrichs Quetschkommode prescht im strammen Dreivierteltakt voran.

Da schlägt Renate hin.

Ich weiß bis heute nicht, ob sie gestolpert ist oder ich zu ungestüm davongaloppiert war – aber sie blutete und brach in Tränen aus, ich wäre am liebsten im Boden versunken.

Später, beim lustigen Abschiedsabend, lautete der auf mich gemünzte Reim entsprechend: „Der Eike, nicht manierlich, tanzte nicht sehr zierlich …“

Na ja.

Dennoch hörten die anfänglichen Hänseleien, wie das fortwährende Verstecken meines Bettzeugs, allmählich auf und ich wurde vom Außenseiter zu einem mehr oder minder akzeptierten Freak, auch weil ich damals so schöne Monster zeichnen konnte.

Komischerweise verband mich gegen Ende der zwei Wochen gerade mit dem Vorzeigegermanen Hermann ein ambivalentes Verhältnis. Der tolle „Pferdeapfel“-Streich ging beispielsweise auf unser beider Konto. Seltsam. Doch es sollte trotzdem mein erstes und letztes Ludendorff-Lager bleiben.

Wieder zu Hause, kaufte ich von den mir verbliebenen 50 Mark meine ersten Heavy-Metal-Platten.

* Weil unser Berichterstatter keinen Ärger mit seinem Onkel bekommen will, haben wir seinen Namen geändert.