: „Ich habe mich richtig dreckig gefühlt“
In vielen Callcentern müssen die Mitarbeiter lügen und betrügen, sagt Undercover-Journalist Günter Wallraff
GÜNTER WALLRAFF, 64, ist bekannt als Undercoverreporter. So enthüllte er 1977 bereits unseriöse Arbeitsweisen der BILD-Zeitung.
taz: Herr Wallraff, Sie haben gerade in Callcentern gearbeitet. Sind Sie dafür nicht zu alt?
Günter Wallraff: Durch den Abbau von sozialen Rechten, der sich hier immer mehr breit macht, habe ich mich wieder gefordert gefühlt. Demnächst werde ich auch wieder in Fabriken arbeiten. Zum Glück habe ich eine gute Maskenbildnerin, die mich auf unter 50 Jahre verjüngen kann.
Das ist jung genug?
Ja, das ist noch ein gutes Alter. Da zählen die Stimme und das Auftreten mehr als das Alter. Die Branche sucht außerdem händeringend neue Mitarbeiter. Die bleiben oft nur ein paar Wochen im Unternehmen, weil sie zu viel Skrupel haben.
Wie sieht die Arbeit aus?
In den Callcentern arbeiten sie dicht an dicht wie in Legebatterien. Der Lärmpegel erschlägt einen. Dazu kommt der Dauerstress. Da müssen Callagenten mit dem Kunden in doppelter Geschwindigkeit sprechen, um ihnen keine Zeit zum Nachdenken zu lassen. Wer erfolgreich verkaufen will, wird systematisch zum Betrüger. Da sitzen arme Schweine, die anderen armen Schweinen mit Drückermethoden Sachen andrehen, die sie freiwillig nie kaufen würden. Das ist schon ein Schweinsystem. Nach kurzer Zeit habe ich mich richtig dreckig gefühlt.
Haben Sie auch betrogen?
Ja, ich musste die Tricks anwenden, um die Praktiken aufzudecken. In meinem zweiten Callcenter, bei ZIU-International in Köln, haben wir uns als Behörde ausgegeben um Gastwirten Tafeln der Jugendschutzbestimmungen aufzuschwatzen. Denen haben wir mit dem Ordnungsamt gedroht, um unsere Listen, die es normalerweise umsonst im Internet gibt, für 89 Euro zu verkaufen.
Sind Zweifel im Team entstanden?
Ja, aber die Leute haben trotzdem weiter gemacht. Die Arbeit findet in einem unheimlichen System statt, das an Scientology erinnert. Fast alle nehmen beim Telefonieren andere Namen an. Es gibt eine Tafel in jedem Raum, auf der jeder einzelne Abschluss notiert wird. Wenn jemand besonders viele Abschlüsse macht, wird er gefeiert als Mann der Woche. Dann wird zum Beispiel mit Champagner angestoßen wie zum Beispiel im ECS-Callcenter in Köln. Da hängen die Mitarbeiter wie in einer Sekte zusammen.
Ihnen wird vorgeworfen, Sie hätten sich bewusst nur die schwarzen Schafe der Branche herausgesucht.
Die Callcenter, die Produkte verkaufen, also die so genannten Outbound-Geschäfte, haben den meisten Zuwachs. Dort gibt es kaum weiße Schafe.
Wie viele Callcenter haben Sie sich denn angeschaut?
Ich war in zwei Callcentern. Allerdings habe ich inzwischen hunderte Briefe von Insidern erhalten, die mir noch viel Schlimmeres berichten.
INTERVIEW: M. SCHRÖDER