: Tatort Telefon
Aus dem Ruhrgebiet telefonieren tausende Callcenter-Agents. Die Gewerkschaften kritisieren prekäre Arbeitsbedingungen, für die Branche sind das Ausnahmen
VON MIRIAM BUNJES UND MORITZ SCHRÖDER
Dass sie so lang auf ihren Betriebsrat warten müssten, hätten die 86 MitarbeiterInnen des Unternehmens CallOn sicher nicht vermutet. Ende vergangenen Jahres haben sich einige Angestellte in dem Dortmunder Callcenter entschlossen, sich zu organisieren. Diesen Freitag, fast ein Jahr später, finden die Wahlen statt – womöglich auf der Straße vor ihrem Arbeitsplatz. Denn die 86 TelefonistInnen sind derzeit freigestellt. Die Gewerkschaft Verdi vermutet, dass ihnen wegen dem geplanten Betriebsrat gekündigt wurde.
In Callcentern gibt es meistens keine Arbeitnehmervertretungen. „Die meisten Angestellten trauen sich nicht, einen einzuführen“, sagt Rupieper. Zudem gebe es für die Callcenter keine Tarifverträge. Ekkehard Schulz, Inhaber von CallOn, begründet die Kündigungen eher mit den zu hohen Kosten: „Der Krankenstand lag über 30 Prozent. Die Stimmung im Team war extrem schlecht.“ Allerdings sagt er auch: „Sind die Angestellten einmal im Betriebsrat, sind die fast unkündbar. Dann brauchen die gar nichts mehr zu tun.“
Allein in Essen arbeiten 15.000 Menschen für Callcenter. „Das Ruhrgebiet ist ein ganz wichtiges Zentrum der Branche“, sagt Jörg Meyer, Geschäftsführer der Call Center Akademie Essen. Er hat Kontakt zu 700 Callcentern in NRW, vermittelt ihnen Arbeitslose, die in seiner Bildungseinrichtung ausgebildet werden. „Es gibt sicher noch viel mehr.“ Dabei hat die Arbeit ein schlechtes Image, vor allem nach den Enthüllungen von Günter Wallraff (siehe Interview).
Wallraffs Beispiele seien Ausnahmen, sagt Meyer. „An die von ihm genannten Firmen vermitteln wir keine Arbeitslosen.“ In der Regel seien Callcenter anständige Arbeitsplätze, an denen man auch vernünftig verdiene.
Zumindest im Verhältnis zu vorher: Das Ruhrgebiet und Mecklenburg-Vorpommern sind Deutschlands beliebteste Callcenter-Standorte. Die meisten Mitarbeiter waren vorher lange Zeit arbeitslos. Die Ruhrgebietler allerdings können noch besser verkaufen als die Ostdeutschen: „Man kann sie überall anrufen lassen, weil sie fast hochdeutsch sprechen“, sagt Meyer. Und auch das „fast“ ist noch ein Vorteil. Der Ruhrpottslang ist volksnah und charmant, zieht Kunden ins Gespräch und lässt sie kaufen. Zudem gibt es im Ruhrgebiet viele Studierende, die nebenbei im Callcenter jobben wollen – qualifizierte Mitarbeiter, die dennoch mit relativ niedrigen Stundenlöhnen zufrieden sind.
Zwischen acht und zehn Euro die Stunde brutto zahlen die rund 5.500 deutschen Callcenter ihren Mitarbeitern, schätzt Harald Weisbrod, Vizepräsident des Call Center Forums Deutschland, dem größten Zusammenschluss deutscher Call Center. „Dass nur nach Prämie gezahlt wird, ist sehr selten“, sagt er. Auch öffentliche Erfolglisten und illegale Geschäftspraktiken seien „große Ausnahme“. „Es gibt immer schwarze Schafe, die Leute anrufen, die dem nicht zugestimmt haben“, sagt Weisbrod. „Cold Calls“ heißen diese Anrufe in der Branchensprache und sind laut Rechtssprechung illegal. „Herr Wallraff zeigt nur die kleine schlechte Seite der Branche“.
Auch Edelgard Kutzner von der Sozialforschungsstellung Dortmund hält Wallraffs Rechercheergebnisse für zu „schwarz-weiß gemalt“. Drei Jahre lang untersuchte die Soziologin fünf deutsche Callcenter für eine noch unveröffentlichte Studie. Die Ergebnisse: Unterschiedlich. „Die meisten Callcenter rufen gar keine Privatkunden an, sondern nur Firmen“, sagt Kutzner. „Ein weiterer großer Teil sitzt an Hilfehotlines, wo die Kunden von sich aus anrufen.“ Dort seien die Arbeitsbedingungen in der Regel normal: „Man verdient ungefähre 1.500 Euro Festgehalt und hat einen Schreibtisch in Normalgröße“, sagt die Soziologin. Sie kenne auch die Callcenter, die Wallraff beschrieben hat. „Sowas ist schrecklich, aber das gibt es in jeder Branche und das ist auch hier die Ausnahme.“