: Menschliches Treibgut
Ein, zwei Wochen Exzess als Ersatz für all die unerfüllten Wünsche: Die Dokumentation „Wild Wild Beach“ (23.15 Uhr, WDR) zeichnet ein faszinierend abstoßendes Bild russischer Urlaubskultur
Der Präsident landet mit dem Hubschrauber im Urlaubsparadies am Schwarzen Meer. Nicht weit von Sotschi steht seine Sommerresidenz, aber Wladimir Putin ist dienstlich hier, um Glück und Wohlstand seiner Untertanen zu inspizieren. Man legt ihm Pläne für neue Urlaubsburgen vor, man lässt die Kinder für ihn singen, er nickt zufrieden. Die Stadt sei auf dem richtigen Weg, sagt der Präsident, weiter so! Dann fliegt er wieder ab.
Durch diesen Pflichtbesuch wird Putin unfreiwillig zum Stargast der russisch-deutschen Dokumentation „Wild Wild Beach“. Zufällig drehen dort nämlich Vitaly Mansky und Alexander Rastorguev ihren Film zur Lage der Nation. Sotschi war ehedem das sowjetische Nizza, hier machten die verdientesten der Funktionäre nobel Ferien. Stalin selbst logierte des Öfteren nahe der Stadt in seiner berühmten Sommerresidenz. Dorthin lud er gern westliche Diplomaten ein, um ihnen die Palmen und Blumengärten des Sozialismus vorzuführen. Dem einfachen Russen waren die weißen Strände am Schwarzen Meer ein fast erreichbarer Sehnsuchtsort. Jetzt ist er angekommen. Jetzt hat das Volk die Amüsierküste der KP-Bonzen erobert. Und urlaubt auf seine grobe, proletarische Weise.
Mansky und Rastorguev entnehmen Sotschi ihre Proben der neuen russischen Gesellschaft. Vor Jahren entstand hier Manskys Film „Broadway. Black Sea“, nun kehrt er zusammen mit Rastorguev zurück zu den Menschen von Sotschi, um deren Geschichte weiterzuerzählen. Von der Soldatenwitwe mit ihrem schmarotzenden Liebhaber. Vom steinalten Gauner, der stolz erzählt, wie er 1948 die Lagerräume des Kreml ausgeraubt hat. Vom jungen Stadtratskandidaten, der seine Hand unter jeden Rock schiebt. Von der Frau, die lieber 42-mal abtreibt, als sich einmal ihrem Mann zu verweigern.
Im Bierzelt protzen Männer mit ihren Bäuchen und ihrem neu-imperialistischen Geschrei. Da wird gewettert gegen die armen Schlucker aus den Randprovinzen und überhaupt gegen alles, was nicht als genuin-russisch gilt. Die Frauen schmiegen sich zustimmend an, sie können und wollen nicht anders. Selbst ihre bescheidensten Träume sind unerfüllt geblieben – Träume von einer eigenen Wohnung und einem Mann, der nicht trinkt. Hier am „wilden Strand“ soll zumindest das letzte bisschen gut werden. Ein, zwei Wochen Exzess sollen Leben vorgaukeln und die Enttäuschung betäuben.
Aber da ist noch Jevgeni, der herzensgute Strandfotograf, der sich mit seinem Kamel leidlich durchs Leben schlägt, ohne wirklich voranzukommen. Es gibt ihn doch, den guten Russen.
„Bewusst unpopulär und geschmacklos“ befanden die Juroren beim Internationalen Dokumentarfilm-Festival 2006, wo „Wild Wild Beach“ den Spezialpreis der Jury bekam. Unpopulär und geschmacklos mag der Film in Russland wirken. Im Westen liegen solche Studien des undurchsichtigen Russlands im Trend. Zwei russische Filmemacher überfüttern antirussische Ressentiments gerade so weit, dass es aufstößt. Was schonungsloser Realismus sein könnte, erscheint verdächtig als gezielte Auswahl im Sinne der Deutungsabsicht. Das funktioniert, denn die Bilder vom wilden Strand prägen sich ein. Die Schönheit des Ortes ebenso wie die faszinierend abstoßenden Exzesse.
CHRISTINE KEILHOLZ