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Archiv-Artikel

Ohne Kontrolle

Die Gesetzgeber von Washington bis Brüssel und Berlin haben die Ratingagenturen mit so viel Macht ausgestattet, dass sie die ganze Welt vor sich hertreiben können. Es liegt nun wieder in der Hand der Politik, dies zu ändern. Denn die großen Rating-agenturen wirken wie Brandbeschleuniger

von Anton Hunger

Es war eine seltene Offenheit, mit der ein Politiker die Lüge zum Geschäftsprinzip erhoben hat: „Wir tun uns angesichts der Nervosität der Finanzmärkte schwer, die Öffentlichkeit stets adäquat und korrekt zu informieren. Das ist bedauerlich, aber leider unvermeidlich“, so Jean-Claude Juncker, der Chef der Eurogruppe, in einem Spiegel-Gespräch.

Der Mann hat recht – und ist für die Begründung seiner Lüge auch noch ehrlich. Transparenz führt in einer aufgeheizten Finanzsituation zu Nervosität an den Märkten und schadet dem Geschäft. Die Frage ist nur, warum Offenheit zu Nervosität führt. Und warum darf ein Geschäft in Zeiten der Schuldenkrise keinen Schaden nehmen?

Man kann es inzwischen in jeder Tageszeitung lesen: Das Problem seien die Ratingagenturen. Bundeskanzlerin Angela Merkel graben sich noch mehr Falten ins Gesicht, wenn das Wort nur fällt. FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle wettert lautstark gegen diese Einrichtung, so als ob die Pest vor den Toren Europas stehe. SPD-Finanzexperte Carsten Schneider will ihnen das Schicksal Europas nicht überlassen. Und Journalisten, die vor ein paar wenigen Jahren noch nicht wirklich wussten, was sich hinter dieser Einrichtung versteckt, vergleichen sie heute mit dem Leibhaftigen. Es geht um drei angelsächsische Agenturen: Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch. Und dieses Trio treibt die Welt vor sich her, zwingt Juncker zur Lüge und hat uns „versklavt“ (Süddeutsche Zeitung)? Selbst Ökonomen stimmen in die Klage ein: „Entmachtet die Ratingagenturen“, forderte der Hamburger Volkswirt Thomas Straubhaar.

Dabei sind Ratingagenturen im Grunde etwas Sinnvolles. Ihre Experten sollen prüfen, ob und wie weit ein Staat oder ein Unternehmen kreditwürdig ist. Das Ergebnis ihrer Prüfung bringen sie in einer Note zum Ausdruck, sodass jeder Investor entscheiden kann, ob er diese Staatsanleihen oder die Aktien des Unternehmens kaufen will oder nicht. Die Note informiert den Anleger auch, wie solvent der Schuldner ist. Steckt er schon bis zum Hals in der Kreide, muss er hohe Zinsen zahlen; gilt er auch für die Zukunft als zahlungsfähig, wird seine Zinslast geringer. Das Ganze soll Transparenz und Sicherheit schaffen für den, der sein Geld anlegt. Verbraucherschutz vom Feinsten also.

So weit, so gut. Und niemand hätte einen Grund zur Kritik, wenn die Ratingagenturen die Rolle des unabhängigen Schiedsrichters einnehmen würden. Wenn man sich an ihre Wertungen halten könnte oder auch nicht. Wenn also Ratingagenturen nichts anderes wären als ein sinnvolles Warnsystem, das man ernst nehmen oder ignorieren kann. Genauso wie die Hinweise, wie viel Alkohol der Cognac enthält oder wie viel Fett der Emmentaler Käse. Aber so einfach ist es nicht – und das haben die Gesetzgeber so eingerichtet. In modernen, kapitalistisch organisierten Gesellschaften brauchen nach dem Gesetz Emittenten – diejenigen also, die Wertpapiere ausgeben – eine analytisch und mit wissenschaftlichen Methoden erstellte Bewertung von einer anerkannten Agentur, ein Rating also. Banken, Versicherungen und Pensionsfonds müssen sich nach diesem Rating richten, wenn sie das Geld ihrer Kunden anlegen. Die Wertung AAA ist demnach bedenkenlos, BBB geht gerade noch, und CCC ist fast schon die Hand auf der heißen Herdplatte. Wenn sie es nicht tun, gibt es Ärger mit den Behörden, im Zweifel auch eine Anklage vor Gericht. Und das kann teuer werden.

Das Problem ist also die unanständige Machtfülle, mit der die Gesetzgeber die Ratingagenturen ausgestattet haben.

Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch sind von Staats wegen privilegiert und genießen einen Omnipotenzstatus, wie ihn diejenigen, die sie damit ausgestattet haben, nicht im Entferntesten haben. Nur deshalb haben die Ratings, die diese Agenturen erstellen, so etwas wie amtlichen Charakter. Merkel muss also gar nicht zürnen, wenn ihr diese Diktatur nicht passt, Brüderle braucht auch nicht zu lamentieren, dass die Ratingagenturen „nicht vom Volk gewählt“ seien, und in Washington müsste der Kongress ganz einfach ihre privilegierte Stellung, die sie nach dem Gesetz haben, einziehen. Sie alle hätten es in der Hand, die Macht der Ratingagenturen zu brechen. Immerhin rangen sich die Europäer zu einer weichen Reform durch: Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch sind seit vergangenem Jahr erstmals einer öffentlichen Aufsicht unterstellt. Der Mechanismus, der sie so übermächtig macht, wurde allerdings nicht angetastet.

Krasses Fehlurteil vor dem Immobiliencrash

Deshalb können die Ratingagenturen weiterhin ihr Spiel mit uns treiben. Sie arbeiten ohne wirkliche Kontrolle und machen einen auf cool. Ohne Hemmungen bringen sie auch diejenigen, die sie privilegiert haben, in die Bredouille, wie man es nach den Pleiten von Enron oder Worldcom, nach den Herabstufungen der Kreditwürdigkeit von Griechenland, Portugal und Irland oder nach den Fehlbewertungen der US-Hypothekenkredite dramatisch erleben konnte. Noch 2008, also nur knapp vor dem Zusammenbruch, haben die Agenturen die amerikanischen Hypothekenpapiere mit der Höchstnote AAA bewertet. Ein krasses Fehlurteil.

In Sack und Asche gehen die hochbezahlten Experten der Ratingagenturen deswegen noch lange nicht. Selbstkritik ist jedenfalls nicht angesagt. Und von Haftung wollen diese Experten schon gleich gar nichts wissen. Obwohl die Ratings auf Expertenwissen basieren, bestehen die Agenturchefs darauf, dass ihre Expertisen nicht mehr und nicht weniger sind als Meinungsäußerungen. Mit der selbst auferlegten Reduzierung auf „Meinung“ fallen sie nämlich unter den Schutz der verfassungsrechtlich garantierten Meinungsfreiheit und können für ihre Wertungen nicht belangt werden. Mit dem eigentlich korrekten Begriff „Expertise“ sähe ihre Wirklichkeit ganz anders aus. Wie Wirtschaftsprüfer müssten sie für ihre Noten geradestehen, wenn sie falsche Annahmen oder fehlerhafte Analysen ihrer Arbeit zugrunde legen. Und obwohl alle Beteiligten und Betroffenen um diesen Wortbetrug wissen, lässt man sie weiter gewähren.

Noch aber haben sie die Macht – und sorgen für Nervosität an den Märkten. Juncker, Merkel und José Manuel Barroso sind in der Erpressungsfalle der Agenturen gefangen. An einen Schuldenschnitt, um den Teufelskreis aus Sparen und immer höheren Schulden zu durchbrechen, wagen sie kaum zu denken, jedenfalls nicht laut. Die Banken, die beispielsweise in Griechenland und in den anderen hochverschuldeten Ländern engagiert sind, müssten mit Herabstufungen durch die Agenturen rechnen. Damit könnte die Politik ja noch leben, auch wenn die Banken aufschreien sollten. Aber bei einem Schuldenschnitt droht Gefahr, dass auch die betroffenen Länder herabgestuft werden. Das ist zwar für Normalmenschen nicht nachvollziehbar, weil weniger Schulden nach einem Schnitt eigentlich zu besserer Zahlungsfähigkeit führen. Ein Teil der Last wäre dem betroffenen Land ja genommen. Den einzigen Sinn, den eine Herabstufung der Schuldnerländer nach einem Schnitt hat, können nur die Banken für sich reklamieren. Und so sichern die Agenturen die Macht der Finanzwelt über die Politik.

Trotz ihrer herausgehobenen Stellung: Auch Verantwortung ist für die Agenturen ein Fremdwort. Als im Mai vergangenen Jahres das Madrider Parlament unter Schmerzen ein milliardenschweres Sparpaket auf den Weg brachte, das bis heute die Menschen auf die Straße treibt, stufte Fitch die Kreditwürdigkeit Spaniens herunter – obwohl Spanien exakt das getan hatte, was die EZB, die EU-Kommission und die Ratingagenturen verlangten.

Und Anfang dieser Woche das gleiche Spiel nochmals. Einen Tag nachdem die Finanzminister der Euroländer die 12-Milliarden-Zahlung an Griechenland freigegeben hatten, legte sich Standard & Poor's quer: Die derzeit diskutierten Modelle, private Gläubiger an den Rettungskosten zu beteiligen, könnten als „teilweiser Zahlungsausfall“ gewertet werden. Und Zahlungsausfall heißt für die Ratingagenturen, dass die Kreditwürdigkeit Griechenlands weiter sinkt. Im Klartext: Die Verschuldung steigt allein durch die Drohung mit der Herabstufung weiter an.

Selbst Fingerspitzengefühl – bei nervösen Märkten geradezu Pflicht – lassen die Agenturen vermissen. Italien hatte sein 47-Milliarden-Sparprogramm noch nicht einmal veröffentlicht, da ließ Standard & Poor's die Römer schon durch den Rost fallen. Am Abend des 30. Juni verabschiedete das Kabinett ein Programm zur Kasteiung des italienischen Volkes. Am Freitag, 1. Juli, um 13 Uhr, also bei laufendem Börsenbetrieb, erklärte die amerikanische Agentur, dass dieses Paket wahrscheinlich nicht ausreiche, eine Herabstufung Italiens zu vermeiden. Es dauerte nur Minuten, und die Zinsdifferenz zwischen deutschen Bundesanleihen und italienischen Staatspapieren erhöhte sich auf den Märkten um drei Basispunkte. Italien hatte nach einem Wimpernschlag einige hundert Millionen Euro zusätzliche Schulden.

Immerhin, die Italiener lassen das nicht so einfach auf sich sitzen. Der Chef der Börsenaufsicht Consob, Giuseppe Vegas, hat die Herabstufungs-Kameraden zu sich einbestellt. Schließlich kann das Parlament an dem Kabinettsbeschluss noch jederzeit Änderungen vornehmen, was in Italien gang und gäbe ist. Italien hat nach Griechenland den höchsten Schuldenstand in der Eurozone. Will das Land seine Schulden auch nur einigermaßen in den Griff bekommen, muss es zwingend eine Herabstufung vermeiden. Ob Silvio Berlusconi und Giuseppe Vegas das verhindern können, ist nach der vorlauten Wortmeldung von Standard & Poor's eher unwahrscheinlich.

Keine Expertise, sondern nur eine „Meinung“

Für dieses Chaos können die Ratingagenturen noch nicht einmal haftbar gemacht werden: Sie verbreiten ja nur „Meinungen“. Profitiert haben von diesem System bisher nur die Geldinstitute. Selbst die sogenannte freiwillige Beteiligung der Banken an der Griechenland-Rettung – weshalb Standard & Poor's das Land herabstufen will – ist ein Hohn. 3,2 Milliarden Euro sollen die Deutschen zur Schuldentilgung beitragen, das haben Finanzminister Wolfgang Schäuble und Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann verkündet. Was sie nicht sagen: 1,2 Milliarden stammen von Banken, die ohnehin in Staatshand sind. Und die anderen Griechenland-Papiere, die nach einer Laufzeitverlängerung um 30 Jahre und der Umschuldung dann bei den deutschen Banken liegen, werden nur zu 70 Prozent ausbezahlt. Ergebniswirksam dürften für die Banken deshalb nur einige hundert Millionen Euro an Belastung für die „Hilfe“ anfallen.

Kein Wunder, dass in diesem System alle nervös werden. Was von der Politik zwischen Washington, Brüssel und Berlin mal mit guter Absicht für den Verbraucherschutz gedacht war, hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Die Ratingagenturen treiben alle vor sich her und schüren die Hysterie. Politiker versuchen mit löchrigen Eimern die Flächenbrände zu löschen. Den Schaden haben alle. Bis auf die Banken.

Anton Hunger, 62, hat seine journalistische Laufbahn bei der „Stuttgarter Zeitung“ begonnen und war von 1992 bis 2009 Pressesprecher bei Porsche.