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Archiv-Artikel

Im Kretschwald

Winfried Kretschmann wandert gern. Es heißt, der Ministerpräsident kenne jedes Blümchen am Wegesrand, wisse um Bäume und Tiere im Wald, woraus er die Kraft für sein Amt schöpfe. Wer ihn verstehen will, sollte in diese Welt eintauchen. Deshalb hat sich die Redaktion der Kontext:Wochenzeitung nach Laiz aufgemacht

von Josef-Otto Freudenreich, Rainer Nübel und Susanne Stiefel

Er heißt wirklich so. Bequemlichkeitsweg. So steht es auf dem Täfelchen, das auf die Wanderwege eins, zwei, drei, vier rund um Laiz hinweist. So viele müssen es schon sein, weil das Dorf am Ausgang des romantischen Donautals von viel Natur umgeben ist. Wir wählen die Eins, nachdem ein freundlicher Rentner am Wegesrand versichert, hier komme immer der Ministerpräsident mit seiner Gerlinde vorbei. Der Mann hat ein Haus am Einstieg zum Einser, vor dem er sitzt, eine Zigarre raucht und die Schwäbische Zeitung liest. Der Aufmacher im Lokalteil Sigmaringen beschäftigt sich heute mit Enten, die zum ersten Mal zum Schwimmen gehen. Der Mann erzählt, dass seine Lage und die seines Hauses nicht immer einfach sind, weil die Wanderer gerne mit Hunden erscheinen, die in seinen Vorgarten kacken. Warum die dauernd „auswärts scheißen“ müssen, versteht er nicht.

Vor seiner Haustür liegt eine Rolle Stacheldraht, die aber nicht, wie er versichert, gegen die Hunde gerichtet ist, sondern gegen Kater und irgendwie auch gegen seine Frau, die eine ziemliche Nervensäge sein muss. Immer habe sie an etwas herumzumosern, sagt er und zuckt ein wenig hilflos mit den Schultern, einen verständnisvollen Blick bei den Männern unserer Gruppe suchend. Schließlich kann er nun wirklich nicht für die Kater verantwortlich gemacht werden, die ihre Pisse an die Haustür spritzen. Oder durchs geöffnete Kellerfenster, was noch schlechter ist für den häuslichen Frieden, weil im Keller die Wäsche gewaschen wird. Seitdem ist das Fenster mit einer Eisenplatte zugemauert. Aber fröhlich ist der Mann trotz alledem.

In Laiz, der Teilgemeinde von Sigmaringen, ist man nicht hektisch. Der Laizer sei eigentlich ein friedfertiger Mensch, heißt es, worüber gewiss auch der Zwiebelkirchturm von Sankt Peter und Paul wacht, der in dem 3.000-Seelen-Dorf den höchsten Punkt markiert. Er ist sozusagen der Orientierungspunkt für alle, die hier umherstreifen.

Der Bequemlichkeitsweg führt immer tiefer in den Kretschwald. Es ist ein lichter Wald, die Laubbäume mit ihren grünen Solardächern dominieren, nur selten setzen Tannen dichte, dunkle Zeichen. Unten am Weg, an der Basis allerdings ballt sich das satte Grün der Bäume und Sträucher mitunter so stark, dass es wie ein kleiner Urwald aussieht, ein Dschungel. Der Waldläufer, der hier geht, tappt nicht im Dunkeln, er behält den Durchblick, doch muss er aufpassen, dass ihn das Grüne nicht blind für anderes macht. Er braucht schon ein gutes Auge, um die roten Walderdbeeren wahrzunehmen, die so klein aus dem Gras lugen, dass man sie glatt übersehen könnte. Und er sollte nicht übersehen, dass auf diesem Weg stets links der Abgrund droht. Oder gähnt.

Die medialen Betriebsausflügler setzen aufklärerische Mienen auf und beginnen den Kretschwald zu scannen. Misstrauisch blicken sie hinter einzelne Bäume. Nichts zu finden, nur dürres Material. Holzweg. Der Kollege mit dunkler feuilletonistischer Vergangenheit nervt, als er postromantisch in die grübelnde Ruhe hinein schon wieder seinen Eichendorff intoniert: „O Täler weit, o Höhen, / o schöner, grüner Wald.“ Das Pathos in seiner Stimme lässt manch munteres Gezwitscher in den solaren Baumkronen jäh erstarren. „Da draußen, stets betrogen / saust die geschäft'ge Welt.“ Jetzt schweigen die Vöglein im Walde endgültig. „Schlag noch einmal den Bogen / um mich, du grünes Zelt.“ Welche geschäftige Welt, warum betrogen und welches Zelt? Bricht da ein Konflikt übers grüne Idyll herein, der sich schon lange anbahnte? Und was hat das alles mit Kretsch und seinem Wald zu tun?

Die waldigen Zeichen am Wegesrand

Jetzt hinken die Vergleiche, holzschnittartig, den Weg entlang. Und die Symbolisten-Blicke werden aufgeregter. Aus einem Baumstamm wächst plötzlich ein Gesicht, knorrig ist es, mit listigen Astäuglein und dicken Moosbacken. Ein Troll, tatsächlich, ja, es muss ein Troll sein. „Der heißt wahrscheinlich Stefan“, sagt einer lakonisch, „er treibt jetzt seinen Schabernack, weil er sich aus dem Amt trollen musste.“ Die Kollegen verdrehen die Augen. „Ha, ha, welch trolliger Vergleich.“

Und doch: die waldigen Zeichen am Wegesrand werden immer mysteriöser. Ein Pfeil aus Sägemehl weist in eine unbestimmte Richtung. Äste wurden, wohl in eiliger Koalition, zu einer wackeligen Konstruktion verbunden, auf Augenhöhe. Sie sieht aus wie ein Fanal, eine Warnung: Fällt einer, bricht das ganze Gefüge zusammen. Und dann auch noch dieser dicke rote Strich an einer Buche, die nicht mehr fest steht und schon die Äste hängen lässt. Ein bedrohliches Zeichen: dieser Baum ist fällig, demnächst wird wohl die Axt an ihn angelegt. „Nennen wir sie Hermannbuche?“, fragt einer. Wissendes Nicken.

Zwei Weggabelungen und eine kleine Lichtung weiter verfinstern sich die aufklärerischen Mienen der Wald-und-Wiesen-Journalisten. An einem Baum prangt ein weißes Schild des Fürstlich-Hohenzollerischen Forstamts Sigmaringen: „Zigeunerwald“. Ja, gibt's denn so was, Political Uncorrectness im Kretschwald! Hat der Waldläufer nie gegen diese ethnisch-politische Provokation protestiert, ist er nie auf die Laizer Hauptstraße gegangen und hat gefordert, dass es zumindest „Roma-Sinti-Wald“ heißen müsste? Irgendwie sehen die medialen Betriebsausflügler jetzt zufrieden aus. Endlich ein dunkles Fundstück. Krähen kreischen nihilistisch und ziehen schwirren Flugs zur Stadt.

Es gibt ja nicht nur Bahnhöfe

Wer im Kretschwald wandelt, landet irgendwann auf dem Gespaltenen Felsen überm Donautal. Der Blick, besoffen vom endlosen Buchengrün, torkelt ins Freie. Fällt von oben auf die grafischen Muster, die ein Traktor in das Weizenfeld gefräst hat, als wolle er Außerirdische, kleine grüne Männchen, zum Landen in Laiz auffordern. Bleibt an der Donau kleben, die sich hier algig grün nach Laiz durchmäandriert. Verfängt sich an den Überlandleitungen der EnBW, die sich zwischen Wäldern und Feldern brutalstmöglich durch die Idylle fräsen.

Der Energieversorger ist noch so eine Mappus’sche Hinterlassenschaft, die dem Mann aus Laiz derzeit Kopfzerbrechen bereitet. Es gibt ja nicht nur Bahnhöfe. Der Zug der Hohenzollerschen Landesbahn schickt derweil ein provozierendes Pfeifen vom Tal auf den Felsen. Man hat den Eindruck, dass es sich im Fels-Spalt höhnisch verstärkt. Dieser Spalt, der auf die Betrachter eine solche Sogwirkung ausübt, dass sie sich vorsichtig zurückziehen. Der immer größer zu werden scheint. Und schimmert er nicht rötlich auf der Talseite, die abzubröckeln scheint? Bevor die Gedanken allzu frei werden, koalitionär gar, oder zu konkret, bahnhofsmäßig konkret – schnell den Rückzug angetreten. Zurück in den Wald. Zurück nach Laiz. Auf dem Weg Nummer eins.

Der führt vom gespaltenen Fels steil nach unten. Und wieder mitten hinein ins fette Grün. Kiefern, aber vor allem Buchen und andere Laubbäume mit ihren sommersatten Blättern. Bäume, wohin das Auge blickt.

Das Wesen des Waldes: das Dazwischen

Waldspaziergänge sind deshalb so ergiebig, weil sie Raum für Fantasien schaffen. „Das Wesen des Waldes ist nicht die Ansammlung der Bäume, sondern das Dazwischen“, sagt der Physiker und alternative Nobelpreisträger Hans-Peter Dürr. Es gibt viel Dazwischen im Kretschwald. Den Felsen am Wegesrand, der an das Profil von Angela Merkel erinnert. Gut, es braucht ein bisschen Fantasie, um die Bundeskanzlerin zu erkennen. Aber diese Nasolabial-Falte, die Nase, die Augen – das ist sie. Der Angie-Fels steht am geteerten Waldweg unten im Donautal, der einmal die Hauptverbindung nach Inzighofen war. Inzwischen endet er im Nichts. Heute gehen hier Rentner, die schlecht zu Fuß sind. Und Jugendliche, die an der Grillstelle mal für sich sein wollen. Unser Wanderrückweg ist ein Ort für Minderheiten. Angie, where will it lead us from here.

Die Donau schickt einen trägen Seitenarm als Weg-Begleiter, Seerosen haben einen Teppich auf das fast stehende Gewässer gelegt. Wo bleibt die Liane, um sich von Ast zu Ast zu schwingen? Dschungelfantasien. Märchenwald mit roten Rumpelstilzchen und schwarzen Gedanken. Mit grünen Prinzen, verheddert im Wurzelwerk der Macht. Wann ist der Wald ein Wald? Aber das ist eine andere Frage. Sie taugt auch für Pressefeste. Natürlich im Haus des Waldes, wo sonst? Genug Dazwischen, Herr Dürr. Genug fantasiert. Eine Schranke zeigt, dass wir angekommen sind. World's End. Ortseingang Laiz.