: „Die Muslimbrüder nicht ignorieren“
BEWEGUNG Ramy Ghanin war von Beginn an bei der Revolution dabei. Was hat sich verändert?
■ 33, ist Anwalt. An der Revolution war er vom ersten Tag, dem 25. Januar, an beteiligt. Auch schon vor der Revolution hat er immer wieder an Protesten gegen das Mubarak-Regime teilgenommen. Nach der Revolution hat er die Front für Gerechtigkeit und Demokratie mitgegründet. Sie setzt sich für gerechtere Löhne, transparente politische Verfahren und gegen Korruption ein. Am 17. Juli wird er heiraten – die Frau, die er am 29. Januar auf dem Tahrirplatz kennengelernt hat.
taz: Herr Ghanin, auf dem Tahrirplatz stehen wieder Zelte. Ist es dieselbe Situation wie im Januar?
Ramy Ghanin: Vieles ist dasselbe. Aber: Die Revolution im Januar war spontan, die Menschen kamen einfach, jeder allein. Die Proteste jetzt sind organisiert. Seit der Revolution sind viele Gruppen entstanden, die Zelte, Sonnensegel, Bühnen aufstellen, das Camp organisieren. Und: Im Januar hatten die meisten Leute keine Ahnung, was los ist, wussten nichts über Politik. Jetzt wissen alle genau, was läuft.
Sind es dieselben Menschen, die protestieren?
Nicht ganz: Es kommen neue dazu, junge und alte. Ich glaube, dass viele, die im Januar und Februar nicht auf dem Platz waren, das bereut haben – und die sehen jetzt ihre zweite Chance. Wie meine Mutter: Die ist letzte Nacht zum ersten Mal auf den Platz gekommen und hat geschworen, sie wird heute Nacht hier übernachten.
Warum sind Sie heute wieder auf dem Tahrirplatz?
Weil es die einzige Möglichkeit ist, gehört zu werden, unsere Forderungen durchzusetzen. Wir haben versucht zu reden, die Regierung hat uns manchmal angehört – passiert ist nichts. Wir fordern eine juristische Aufarbeitung des alten Regimes. Aber letzte Woche sind drei angeklagte Minister freigelassen worden. Wir fordern, dass die Polizei gesäubert wird. Aber die Polizisten, die Menschen getötet haben, machen weiter ihren Job. Wir fordern Presse- und Meinungsfreiheit. Aber die Presse ist schon wieder ein reines Propagandainstrument. Wir fordern 1.200 Pfund Mindestlohn – und die Regierung hat diesen auf 684 Pfund gekürzt!
Aber es handelt sich nur um eine Übergangsregierung.
Die Übergangsregierung ist vom Militär eingesetzt, der Oberste Militärrat regiert das Land. Die Generäle mögen gut sein in militärischen Fragen, darin, das Land zu verteidigen. Aber sie haben keine Ahnung, wie man eine Demokratie aufbaut. Wir brauchen eine zivile Übergangsregierung, die die Forderungen der Menschen umsetzen kann.
Haben alle Gruppen auf dem Platz dieselben Forderungen?
Nein, das geht weit auseinander. Aber das ist normal, das ist sogar schön! Wir durften 52 Jahre lang unsere Meinung nicht äußern, jetzt ist der Tag gekommen, dass jeder eine Meinung haben darf und wir offen diskutieren.
Auch mit den Muslimbrüdern?
Es gab in letzter Zeit Probleme zwischen der jugendlichen Protestbewegung und den Muslimbrüdern. Als die Muslimbrüder heute ihre Bühne aufgebaut haben, mussten sie sie mit hunderten Menschen schützen. Was mich stört, ist, dass die Muslimbrüder Religion und Politik vermischen. Unabhängig davon sind sie ein wichtiger politischer Akteur, eine 82 Jahre alte, große Organisation. Wir können sie nicht ignorieren, wir müssen uns mit ihnen auseinandersetzen. INTERVIEW: JULIANE SCHUMACHER