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Archiv-Artikel

„Marx im Schützengraben“

VORTRAG Briefwechsel erzählen von der Perspektive der Arbeiter-Lebenswelt auf den Ersten Weltkrieg

Von GJO
Jörg Wollenberg

■ 77, Historiker, hat an der Uni Bremen Weiterbildung gelehrt.

taz: Herr Wollenberg, wie sah der Kriegsausbruch „von unten“ aus?

Jörg Wollenberg: In Bremen gab es kaum Kriegsbegeisterung. Noch vor Juli 1914 kam es zu Massenversammlungen und Protesten gegen den Krieg in fast allen Ortsteilen. Ein Beispiel für die starke Arbeiterbewegung war auch die Bremer Bürger-Zeitung (BBZ): Dort veröffentlichten Luxemburg und Liebknecht selbst während des Krieges kritische Texte.

Was passierte nach der Julikrise?

Die Oppositionellen wurden kaltgestellt und mussten gegen ihren Willen an die Front. Das geschah mit Politikern, Künstlern, aber auch einfachen Arbeitern wie Robert Pöhland.

Das Besondere an ihm?

Er war gegen die Kriegskredite, die die SPD im „Burgfrieden“ mittrug. Pöhland artikulierte seine Ablehnung offen und war für seine Gewerkschaft der Bauarbeiter ein Quergeist, den man loswerden wollte. Vermutlich eine Denunziation führte zu seiner Zwangsrekrutierung 1915. Dieser innerlinke Konflikt griff der späteren Spaltung der SPD vor und ist ein Thema im Briefwechsel mit seiner Frau Anna.

Welche Bedeutung haben diese Briefe?

Sie sind eines der wenigen Zeugnisse für die Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges aus Sicht der einfachen Arbeiter und sprechen in einer schönen Sprache von ihrem politischen und kulturellen Wissen.

Inwiefern?

Pöhland, von Beruf Maurer, beschäftigte sich selbst im Schützengraben mit Literatur und politischer Theorie. Er las nicht nur Marx, Luxemburg und Liebknecht, sondern auch Goethe. Er bat seine Frau, politische Bücher und Zeitungen zu schicken, schrieb sogar selbst Artikel und Leserbriefe für die BBZ. Den Sohn ermutigte er, den Sozialismus zu studieren, ins Theater und die Kunsthalle zu gehen.

War er erfolgreich?

Ja, im Juli 1916 gratulierte er seinem Sohn dazu, dass er „auf dem richtigen Weg zur sozialistischen Erkenntnis“ sei. Er könne es gar nicht abwarten, politische Gespräche mit ihm zu führen. Das war im letzten Brief an seinen Sohn. Am 21. Oktober riss ihm eine Granate den Kopf ab. Interview: GJO

17 Uhr, Villa Ichon, gelesen von Rolf Becker