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Archiv-Artikel

Kultur als Waffe gegen Gewalt

Das brasilianische Kulturprojekt AfroReggae präsentiert im Rahmen des Hannoverschen Festivals „Theaterformen“ einen Eindruck vom Leben in den Favelas. Die jungen Schauspieler und Musiker zeigen, dass es Alternativen zu einer Karriere als Drogendealer mit minimaler Lebenserwartung gibt

In seiner Funktion ist Sà in Gefahr, Opfer eines Mordanschlags zu werden. Er entkam, weil seine Kollegen zu ihm hielten

VON BARBARA MÜRDTER

Die Lebenserwartung eines Dealers in den Slums von Rio de Janeiro liegt zwischen 14 und 25 Jahren. Eine Realität, mit der Anderson Sà aufwuchs. Dass er mittlerweile fast dreißig ist, noch lebt, und sogar ein anerkanntes Mitglied seiner Gemeinde ist, ohne kriminell zu sein, hat er vor allem seinem Engagement in dem Kulturprojekt AfroReggae zu verdanken.

Sà wurde hineingeboren in ein Milieu, was zu seiner Teenagerzeit nur eine Karrierechance offenhielt für einen ambitionierten jungen Mann wie ihn: sich einem der Drogenkartelle in den Favelas anzuschließen. „Es wurde nichts für die Favelas getan, für Bildung oder Kultur. Es gab keinen öffentlichen Platz, kein Gesundheitszentrum. Die Leute waren arbeitslos, hatten nichts zu tun. Kriminalität wurde und wird als Zeitvertreib und als Einkommensquelle gesehen“, sagt er.

Sàs Leben nahm eine 180-Grad-Wendung, nachdem er 1993 seinen Bruder bei einem der übelsten Racheakte der brasilianischen Polizei verlor. 21 unschuldige Favela-Bewohner waren wahllos getötet worden, weil Drogenbanden vier Polizisten ermordet hatten, die das Viertel terrorisierten. Sà hatte trotz seiner Wut das Gefühl, dass diese Spirale der Gewalt durchbrochen werden müsse – eine Botschaft, die er in sein Viertel tragen wollte. Mittel dazu sollte Musik und Kultur sein. Und Sà sah auch, dass die Veränderung von innen kommen musste, weil es von außen keine Hilfe geben würde.

Das Ereignis hatte auch andere aufgewühlt, und Sà fand Gleichgesinnte wie den Funk-DJ José Junior mit seinem Projekt AfroReggae. Sie versuchten, über die Identifikation mit Musik, Jugendliche von der Straße zu holen und eine Alternative zu einer kriminellen Karriere zu bieten. „AfroReggae hatte zunächst Reggae-Parties angeboten, um schwarze Kultur positiv darzustellen,“ erzählt Sà. „Als sie merkten, dass da ganz verschiedene Leute hinkamen, gaben sie eine kleine Zeitung heraus, die neben Musik auch soziale Themen behandelte.“ Jugendliche wurden in eigene Musikprojekte eingebunden und die Aktivisten sorgten dafür, dass sie eine Ausbildung bekamen – als Musiker, Tänzer und Sänger, aber auch als Grafiker oder Manager.

Dabei waren sie auf Spenden und das, was sie im Abfall finden konnten, angewiesen. So wurden aus ausgedienten Plastikfässern und einem Seil Trommeln gebaut, weil es keine Instrumente gab. In ihren Texten sprachen sie Dinge an, die keiner sonst zu sagen wagte: Sie prangerten Polizei-Brutalität an, zeigten deren Verstrickung in den Drogenhandel auf und boten auch den nicht weniger korrupten und grausamen Bandenbossen in den Vierteln verbal die Stirn.

AfroReggae verdienten sich schnell mit ihrer Musik und ihren sozialen Projekten Respekt. Auch wenn die Drogenbosse noch immer erfolgreicher waren in der Rekrutierung junger Mitglieder, wuchs das kleine Projekt konstant und erregte jenseits der Favela-Grenzen Aufsehen. „Vigário Geral wurde in meiner Teenagerzeit als die gewalttätigste Favela in ganz Brasilien gesehen – alles war immer nur negativ. Jetzt gab es in der Öffentlichkeit auch positive Bilder“, sagt Sà.

Mittlerweile gibt es 73 Projekte unter dem AfroReggae-Dach: Musik-, Zirkus und Tanzgruppen. Sogar Workshops zu Webdesign und Internetradio werden in den vier Zentren in den Favelas angeboten. In Vigário Geral gilt es nicht mehr als allein selig machendes Ziel, Drogendealer zu werden. AfroReggae hat hunderttausende Anhänger in Brasilien und bekommt Fördergelder aus US-amerikanischen Stiftungen. Die Hauptband hat einen internationalen Plattenvertrag und tourt seit neun Jahren in der ganzen Welt.

Sà, der bei aller Ernsthaftigkeit oft ein verschmitztes Lächeln zeigt, ist heute einer der Stars von AfroReggae. Er war sogar Hauptfigur in einem viel beachteten Dokumentarfilm über die Geschichte des Musikprojekts und das Leben in den Favelas: „Favela Rising“. Er sieht seine Aufgabe mittlerweile vor allem als Multiplikator: „Ich nehme Einladungen an, Vorträge zu halten und empfange Gäste bei uns um ihnen zu zeigen, wie unser Projekt funktioniert.“ Er versucht, Jugendliche von einem Weg in die Kriminalität abzubringen und genießt eine Anerkennung in seinem Viertel, wie sie früher nur die Dealer bekamen mit ihrem Geld und den Motorrädern – und aufgrund der Angst, die sie mit ihrer skrupellosen Brutalität verbreiteten.

In seiner prominenten Funktion steht Sà noch mehr als die anderen Favela-Bewohner konstant in Gefahr, Opfer eines Mordanschlags zu werden. Vor wenigen Jahren hatte es eine Drogenbande aus einem anderen Viertel auf ihn abgesehen, obwohl AfroReggae neutral ist. Einige Stunden war er in Lebensgefahr. Er entkam nur, weil seine Kollegen zu ihm hielten. Ihr Mut beeindruckte die Drogenbosse, und sie mochten die Musik des Projekts.

Wie durch ein Wunder überlebte Sà zudem einen schweren Surfunfall, bei dem er sich einen Halswirbel verletzte. Eine Operation hätte niemand bezahlen können. Die Gemeinde fürchteten nicht nur um das Leben des beliebten Musikers, sondern auch um die Existenz des AfroReggae-Projekts. Ein sozial engagierter Arzt behandelte ihn schließlich umsonst, prognostizierte aber eine dauerhafte Lähmung. Zehn Monate später stand Sà wieder auf der Bühne.

Ihren Optimismus, auch schwere und scheinbar aussichtslose Lebenslagen meistern zu können, wollen AfroReggae weitervermitteln. Auch in Hannover wollen sie nicht einfach ihre Show spielen. Dem künstlerischen Leiters des Festivals Theaterformen, Stefan Schmidtke, lag ebenfalls daran, dass von den Veranstaltungen etwas in der Stadt bleibe und weitergetragen werde. Er bat die Musiker, einen Workshop mit hannoverschen Jugendlichen zu betreiben, der von Jugendleitern vor Ort weitergeführt werden soll.

Die Jugendlichen werden sogar mit auf der Bühne des Schauspielhauses stehen – und auch ein hannoversches Polizeimusikcorps. Was zunächst seltsam anmutet, ist ein Detail der Arbeit in Rio: Das gemeinsame Musizieren soll zu einer Annäherung zwischen Polizisten und der Bevölkerung führen, Vertrauen schaffen.

In ihrer Show erzählen die Musiker zu Hip-Hop-Musik ihre eigene Geschichte. Das aktuelle Stück heißt: „Es gibt keinen Grund für Krieg.“ Die Botschaft ist universell. „Das haben wir genau so vor einem Jahr in London uraufgeführt, und vor vier Tagen in Sao Paolo, wie wir es jetzt in Hannover zeigen“, erzählt Sà. Zum besseren Verständnis gibt es Untertitel in der jeweiligen Landessprache.

17 Musiker aus Brasilien werden auf der Bühne stehen. Einer jedoch fehlt: José Junior, Initiator von AfroReggae und Regisseur des Stückes, musste in Rio bleiben. Er wird als Vermittler in gerade mit neuer Gewalt ausgebrochenen Kämpfen zwischen der Polizei und den Drogenkartellen gebraucht. Auch wenn nicht plötzlich alles eitel Sonnenschein ist, sieht Anderson Sà AfroReggae als Erfolg: „Die Mordraten sind noch immer sehr hoch. Aber es gibt es inzwischen mehr Regierungsinitiativen in den Favelas. Wir sind ein Vorbild für andere Gemeinden mit ähnlichen Problemen geworden. Wir bekommen ständig Anfragen.“

AfroReggae ist zu sehen im Rahmen des Festivals Theaterformen am 19. und 20. Juni im Schauspielhaus Hannover. Mehr Informationen unter www.theaterformen.de