„Mir ist ziemlich egal, was die Welt braucht“

POP Früher sang Holly Johnson bei Frankie Goes To Hollywood und sorgte für Aufruhr, als er sich outete. 1991 erfuhr er, dass er HIV-positiv ist. Nach fünfzehn Jahren Pause hat er ein neues Album veröffentlicht. Seine Songs sollen ihn daran erinnern, das Leben zu genießen, sagt er

■ Der Musiker: Holly Johnson, 54, wird in Liverpool geboren, spielt dort zuerst in Punk- und New-Wave-Bands. 1980 entsteht Frankie Goes To Hollywood mit den beiden Vorsängern Holly Johnson und Paul Rutherford, die kein Geheimnis aus ihrer Homosexualität machen. 1984 gelingt der Durchbruch mit dem Song „Relax“, in dem eine zurückgehaltene Ejakulation beschrieben wird. Mit dem Stück, besonders aber sexuell expliziten Videoclips lösen FGTH Skandale aus und werden zur größten Pop-Sensation des Jahres mit weiteren Hits wie „Two Tribes“ und „The Power of Love“. 1987 verlässt Johnson die Band.

■ Der Mann: Seit dreißig Jahren lebt er mit seinem Partner und Manager Wolfgang Kuhle zusammen.

■ Das Album: „Europa“ ist das erste Album von Holly Johnson seit 15 Jahren und ist bei Pleasuredome/Rough Trade erschienen.

GESPRÄCH THOMAS WINKLER
FOTO KARSTEN THIELKER

Holly Johnson, die Haare sind gepflegt ergraut, trägt eine blaue Lederkrawatte zur blauen Lederjacke. Als er fotografiert werden soll, zückt er eine Sonnenbrille – mit blauer Fassung. „Habe ich extra so aufeinander abgestimmt“, sagt er, „außerdem habe ich letzte Nacht nur drei Stunden geschlafen.“ Das sehe man ihm nicht an, versichern wir. Er lässt sich trotzdem kaum erweichen, die Sonnenbrille wieder abzusetzen.

taz: Herr Johnson, sind Sie ein glücklicher Mensch?

Holly Johnson: Doch, ja. Ich bin durchaus in der Lage, glücklich zu sein. Gelegentlich.

Wie sieht es gerade aus?

Jetzt ist gerade wieder die Zeit, in der sich meine Stimmung verdüstert. Er schaut hinaus in einen trüben Berliner Herbsttag. So sieht es in England neun Monate im Jahr aus. Grau, Regen, Depressionen. Vor allem der Januar ist schlimm.

Das klingt nicht sehr glücklich.

Ja, aber das ist ein wichtiger Teil meines Charakters. Meine Kreativität kommt vor allem daher. Das introspektive, leicht schwachsinnige Geplapper, das in meinem Kopf stattfindet, treibt mich an. Seltsamerweise halten mich die meisten, die mich neu kennenlernen, für einen munteren Menschen. Wolfgang, mein Partner, nennt mich einen Hausteufel.

Auch wenn man Ihr neues Album „Europa“ hört, könnte man denken, es gehe Ihnen blendend und Sie seien ein gutgelaunter Typ.

Ja, aber das ist ein Trugschluss. Die Songs eines solchen Albums hört man monatelang wieder und wieder. Daher habe ich ganz bewusst Lieder mit positiver Botschaft geschrieben, um mich selbst aufzubauen. Sie sind mein Versuch, aus dem Schneckenhaus auszubrechen. Diese Songs sind keine Botschaft an Sie oder irgendeinen anderen Hörer. Das sind Botschaften an mich selbst. Ich brauche ständig eine Erinnerung, nicht so mies drauf zu sein, den Moment zu genießen und dankbar zu sein für das Leben.

Waren Sie schon immer so – wie Sie es nennen – mies drauf?

Mit dem Alter wird es sogar noch schlimmer. Schon als Teenager saß ich am liebsten in meinem Zimmer, las Gedichte und lernte Akkorde auf der Gitarre. Das kann ein ziemlich einsames Geschäft sein. Da wird man im Laufe der Zeit fast automatisch zum Experten für positive Botschaften.

Warum braucht die Welt gerade jetzt positive Botschaften, warum ein Album wie „Europa“?

Um ehrlich zu sein: Mir ist ziemlich egal, was die Welt braucht. Ich mache das vor allem für mich.

Sie sprechen also vor allem mit sich selbst, wenn Sie singen: „The time is now, don’t even waste a moment“, „Follow your heart“ oder „Let your life begin“?

Ja, unbedingt.

Sie haben 1991 erfahren, dass Sie HIV-positiv sind. Brauchen Sie diese Botschaften, um sich selber immer wieder zu sagen, dass das Leben weitergeht?

1991 war die Diagnose wie ein Todesurteil. Die Ärzte haben gesagt: Sie sollten jetzt in Urlaub fahren. Sie gaben mir noch zwei Jahre oder vielleicht auch nur zwei Monate. Um ehrlich zu sein: Ich will darüber nicht so viel nachdenken. Auch weil es eine Zeit gab, in der ich mich tatsächlich selbst verantwortlich gefühlt habe für die ganze Sache.

Warum?

Die Öffentlichkeit und die Umgebung haben einen dazu gebracht. Schwul zu sein war in meiner Generation nicht einfach, offen schwul zu leben erst recht nicht. Und nun hatten die religiösen Fundamentalisten einen neuen Grund gefunden, mich und meine Art zu leben zu verdammen. Ganz nebenbei verliert man auch noch die meisten seiner Freunde. Meine Depressionen sind in der Zeit jedenfalls nicht besser geworden.

Sie haben vor allem wegen der verbesserten Behandlungsmethoden überlebt, die es seit 1996 gab?

Das hat geholfen, klar. Aber ganz wird man das nie los. Das fängt ja schon damit an, wie man sich ernähren muss, dass man auf seinen Körper achten muss, kein Alkohol, keine Drogen. Aids wird immer ein Teil von mir bleiben, aber mittlerweile fühlt es sich eher so an wie für jemanden, der schlecht sieht und dadurch eingeschränkt ist, dass er eine Brille tragen muss. Die Krankheit ist Teil meiner Persönlichkeit geworden, und der Schmerz erschafft die Kunst. In gewisser Weise bin ich also sogar dankbar.

Aids als kreativer Motor?

Absolut. Für mich war es, als hätte ich eine Infusion bekommen. Ich wollte mich erklären, ausdrücken. Es gibt keinen besseren kreativen Antrieb als das Gefühl zu haben, das Ende ist nah. Wenn ich gewusst hätte, dass ich heute noch lebe, wäre ich womöglich wirklich in Urlaub gefahren.

Hat sich Ihr Verhältnis zur eigenen Kunst verändert durch das Virus?

Nein. Es geht immer noch vor allem darum, dass ich zufrieden bin mit einem Song, mit einem Sound oder auch mit einem Gemälde, denn dann geht es mir gut. Es ist schön, wenn es der Welt auch gefällt. Das ist ja auch hin und wieder in meiner Karriere passiert. Aber doch zu selten, als dass man sich darauf verlassen könnte. Wenn man wie ich auch Alben veröffentlicht hat, die nur ein großes Schweigen in der Welt hervorgerufen haben, dann lernt man, dass man Kunst in erster Linie für sich selbst machen sollte. Manchmal korrespondiert die eigene Sicht dann aber seltsamerweise mit der Sicht der Welt, und ein Album wird ein großer Erfolg. So ist Popmusik halt.

Das Auf und Ab in Ihrer Karriere ist aber besonders extrem. Mit Frankie Goes To Hollywood waren Sie ein Jahr lang der erfolgreichste Pop-Act der Welt. Auch Ihr erstes Solo-Album erreichte in England wieder die Nummer eins. Die beiden darauffolgenden Alben aber floppten fürchterlich. Nun, 15 Jahre nach Ihrem letzten Album, scheint die Welt wieder sehnsüchtig auf Holly Johnson zu warten. Die Journalisten stehen Schlange, um Sie zu interviewen. Zu Hause in England überschlagen sich die Medien geradezu.

Ja, ist es nicht bizarr? Ich kann das auch nicht erklären. Zum Glück ist das auch nicht mein Job, sondern Ihrer. Vielleicht ist es einfach so: Künstler sind angesagt und kommen dann wieder aus der Mode wie Röhrenjeans oder Schulterpolster. Vor allem in England kann man eigentlich freiwillig abtreten, wenn man 30 geworden ist und Pop macht. Wenn man Rock ’n’ Roller ist oder in einer Gitarrenband spielt, wird einem mehr Respekt entgegen gebracht.

Sie sollten Blues-Sänger werden. Die können in Würde altern.

Gute Idee. Aber wäre das noch authentisch? Obwohl, wenn jemand den Blues hat, dann ja wohl ich. Aber ich kann das nicht: Ich will die Leute nicht dazu bringen, sich genauso schlecht zu fühlen wie ich. Melancholische Songs zu trällern und den Leuten dabei zu helfen, sich die Pulsadern aufzuschneiden, sehe ich nicht als meine Aufgabe. Ich will nicht zum Elend der Welt beitragen, es gibt schon genug Weltschmerz. Nein, und wenn man dann noch jeden Tag die Nachrichten sieht. Ich verstehe nicht, warum Großbritannien den Pudel für die Amerikaner spielt und sich in Kriege ziehen lässt, die auf der anderen Seite des Globus geführt werden. Wir sind ein kleines, hochverschuldetes Land, das ist doch alles absurd.

Diese Welt, die Sie da gerade beschreiben, hat Ihre Platte vielleicht doch nötig?

Natürlich, ich glaube, dass das die beste Platte ist, die ich je gemacht habe. Definitiv: Die Welt braucht „Europa“.

Kann Popmusik die Welt verbessern?

Ohne jeden Zweifel. Die transformierende Kraft der Popmusik ist ungebrochen. Es gibt immer noch nichts Besseres, wenn man sich schlecht fühlt an einem regnerischen Tag in England, Düsseldorf oder Würzburg, wenn der Job langweilig ist oder man krank in einem Wartezimmer sitzt. Popmusik kann die Last auf den Schultern ein wenig leichter machen. Zugegeben, Popmusik hat heute nicht mehr die Kraft, die sie mal besaß, weil es heute so viel mehr Möglichkeiten der Unterhaltung gibt. Das Internet ist schuld, wenn man so will. Die Leute schauen Pornofilme oder spielen Games, in denen sie sich gegenseitig umbringen.

Das war 1984 anders, als Frankie Goes To Hollywood die Welt regierten.

Ja, damals konnte man noch das Gefühl haben, die Welt mit Popmusik zu verändern.

Sie und Ihr Bandkollege Paul Rutherford waren die ersten offen schwulen Stars in der Geschichte der Popmusik.

Ja, vor uns gab es nur Tom Robinson. Es wird gerne vergessen, dass der schon 1978 „Glad To Be Gay“ sang. Aber Boy George, Marc Almond, George Michael und Freddy Mercury haben sich nicht aus dem Schrank getraut.

War Ihnen schon damals klar, dass Sie ein Pionier waren?

Ja, einer musste den Job übernehmen. Ich hatte erlebt, welche Bedeutung es nicht nur für mich, sondern für den generellen Umgang mit Sexualität hatte, als David Bowie in den siebziger Jahren erklärte, er sei bisexuell. Auch wenn das nicht stimmte und nur ein Statement war, um eine verkaufsfördernde Kontroverse auszulösen, war es trotzdem wahnsinnig wichtig für eine weitere Liberalisierung. Natürlich war mir klar, was es bedeutete, dass wir keinen Hehl aus unserer Homosexualität machten. Vor allem, weil wir gar nicht erst um Akzeptanz gebeten haben. Wir haben uns hingestellt und gesagt: Wir sind schwul. Und ihr könnt uns mal, wenn euch das nicht passt.

Auch in Ihrem Fall war der Schockeffekt verkaufsfördernd.

Vielleicht. Aber wir hatten eigentlich keine Wahl. Wir wussten, wir mussten einen Schritt weitergehen. Wir mussten die Grenzen verschieben. Die Zeit war reif. Vielleicht war Frankie Goes To Hollywood der Flügelschlag, der den Schmetterlingseffekt ausgelöst hat, der drei Jahrzehnte später dazu geführt hat, dass Schwule in vielen Ländern heiraten dürfen.

Nahezu parallel erschienen Bronski Beat mit „Smalltown Boy“ auf der Bühne. Wären Sie nicht gewesen, wäre Jimmy Sommerville der erste offen schwule Popstar geworden.

Ja, das war knapp. Jimmy war aber anders drauf als wir. Er war jemand, der auf Demonstrationen ging, er war sehr viel politischer als wir. Wir haben uns gut ergänzt, aber wir haben das damals natürlich nicht so gesehen. Aber wie unwirklich und neu die Situation damals für alle war, sieht man daran, dass Boy George Briefe an Musikmagazine schrieb, in denen er sich darüber beschwerte, dass wir das Ansehen von Schwulen beschädigen würden. Ist das nicht absurd?

Boy George, George Michael, Freddy Mercury, Sie selbst – alle wirklich großen schwulen Popstars scheinen in den Achtzigern groß geworden zu sein.

Das Musikgeschäft hat sich in den neunziger Jahren verändert. Als ich Frankie Goes To Hollywood verlassen habe, wurde ich von der Plattenfirma verklagt. Ich habe gewonnen, das wurde zu einem Präzedenzfall, an dem sich später George Michael oder die Stone Roses orientiert haben, als sie ihre Plattenfirmen verlassen wollten. Schwule Künstler galten nun als Unruhestifter. Außerdem übernahmen in den frühen Neunzigern die Wirtschaftsberater die großen Plattenfirmen. Sie entschieden, dass es einfacher ist, mit heterosexuellen Rockmusikern zu arbeiten als mit exzentrischen Schwulen. Es war die Zeit von Oasis, Blur oder Suede – und Schwule wurden nicht mehr im Radio gespielt.

Die Stars nicht nur des schwulen Publikums wurden stattdessen Frauen.

Ja, Madonna, Kylie Minogue, Lady Gaga. Frauen wie diese, die sich sexuell uneindeutig geben, das finden Hetero-Männer scharf. Schwule Männer dagegen finden sie bedrohlich. Und das Musikgeschäft ist halt immer noch ein Patriarchat. Ein Patriarchat, das gute, saubere Geschäfte machen will. In den späten Achtzigern hat mal eine Plattenfirma den Markt für Holly Johnson erforschen lassen. Die Marktforscher haben mir dann gesagt: Den Leuten ist egal, ob Sie schwul sind. Aber Sie sollten nicht ständig darüber reden, die Leute wollen es nicht wissen. Vielleicht ist am Ende womöglich die Marktforschung schuld daran, dass sich die Popmusik so verändert hat.

Welche Rolle spielte Aids in dieser Entwicklung?

Natürlich eine große. Das war ein weiterer Grund für die Plattenfirmen, keine schwulen Künstler mehr zu verpflichten. Mein Telefon jedenfalls blieb in den neunziger Jahren stumm, das kann ich Ihnen sagen. Und es ist nicht viel besser geworden. Ich habe mein eigenes Label gegründet, denn keine Plattenfirma will einen 54-jährigen schwulen Popmusiker verpflichten. Ich habe alle großen Plattenfirmen angefragt, und es gab keine einzige positive Reaktion.

Das war der Grund, warum Sie eine Weile aufgehört haben, Musik zu machen?

Allerdings. Denn die Musik, die mir vorschwebt, ist teuer. Dazu braucht man Zeit und ein gutes Studio, solche Musik kann man nicht im Schlafzimmer aufnehmen. Aber ich war auch zu krank und zu depressiv, um Musik zu machen. In sechs oder sieben Jahren habe ich nur zwei Singles aufgenommen. Erst Ende der Neunziger hat die Kombinationstherapie auch meinen Gesundheitszustand entscheidend verbessert. Da habe ich gedacht: Ich mache noch eine letzte Platte, bevor ich mich endgültig verabschiede. Ich habe mir ein Heimstudio gebaut und ein gutes Studio für bestimmte Aufnahmen geleistet. Als die Platte herauskam, war ich eigentlich pleite. Die Platte ist gefloppt, aber ich bin immer noch am Leben.

Damals haben Sie mit dem Malen angefangen.

Das war wie eine Zuflucht. Ich habe auch meine Autobiografie geschrieben. Malen und Schreiben sind körperlich viel weniger anstrengend als Singen. Außer man würde sehr leise singen. Aber niemand will Holly Johnson leise singen hören.

Sie dürften der einzige Mensch sein, der einen Nummer-eins-Hit in England hatte und dessen Bilder in der Royal Academy gezeigt wurden.

Nein, das stimmt leider nicht, Paul McCartney und Ron Woods wurden in derselben Ausstellung gezeigt.

Worauf sind Sie stolzer?

Beides war sehr befriedigend. Aber die Musik ist schon meine erste Liebe. Und der internationale Erfolg von Frankie Goes To Hollywood war die Erfüllung eines Kindertraums.

Was können Sie mit einem Gemälde ausdrücken, das Sie mit einem Song nicht sagen können?

Malen oder einen Song schreiben ist ziemlich dasselbe für mich. Es sind beides kreative, aber einsame Prozesse. Der Song muss aber noch aufgenommen werden, und dann wird es ein kollaborativer Prozess, weil man Musiker braucht oder zumindest einen Toningenieur. Aber man kann mit einem Gemälde und einem Song ähnliche Emotionen ausdrücken.

Was hat größere emotionale Kraft?

Das Lied, gar keine Frage. Es gibt nur sehr wenige Gemälde, die einen zum Weinen bringen. Aber sehr viele Songs lassen einen heulen. Mich jedenfalls.

Thomas Winkler, 49, taz-Autor, brauchte Jahre, bis er merkte, dass Village People schwul sind

Karsten Thielker, 48, freier Fotograf in Berlin, hörte mit 14 gerne Frankie goes to Hollywood