piwik no script img

Archiv-Artikel

Späte Anklage

NS-VERBRECHEN Das Landgericht Lüneburg berät über die Anklage gegen einen 93-Jährigen, der in Auschwitz Dienst getan hat. Es wäre ein Verfahren mit Seltenheitswert

Demjanjuk-Prozess

■ Der gebürtige Ukrainer John Demjanjuk war Soldat der sowjetischen Armee. Nach seiner Gefangennahme durch die deutsche Wehrmacht diente er als Hilfswilliger bei den Hilfstruppen der SS.

■ Der Oberste Gerichtshof Israels sprach ihn 1993 vom Vorwurf frei, als „Iwan der Schreckliche“ Massenmorde im Vernichtungslager Treblinka begangen zu haben.

■ Wegen Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen klagte ihn 2009 die Staatsanwaltschaft München an.

■ Das Landgericht verurteilte ihn 2011 zu fünf Jahren Haft, 2012 starb Demjanjuk im Pflegeheim.

VON FRIEDERIKE GRÄFF

Es ist ein ungewöhnliches Verfahren, in dem die Staatsanwaltschaft Hannover Anklage erhoben hat – „wir haben damit keine Erfahrung“, sagt ein Sprecher des Lüneburger Landgerichts. Dieses soll darüber entscheiden, ob die Hauptverhandlung gegen einen 93-jährigen früheren KZ-Wächter in Auschwitz erhoben wird.

Die Anklage wirft dem Mann, der in der Nordheide lebt, Beihilfe zu 300.000-fachem Mord vor, weil er als Angehöriger der Waffen-SS in der Häftlingsgeldverwaltungsstelle von September 1942 bis Oktober 1944 Dienst getan hat. Dort hat er laut Staatsanwaltschaft Banknoten gezählt und verbucht, die die in das Lager verschleppten Menschen in ihrem Gepäck auf der Bahnrampe des Lagers zurückgelassen hatten oder die später in ihrer Kleidung oder an ihrem Körper gefunden worden seien.

Kern der Anklage ist, dass dem Beschuldigten bewusst gewesen sein soll, dass die angeblich zum Baden weggeführten Menschen, die mit den Transporten im Juni und Juli 1944 in Auschwitz eintrafen, unmittelbar vergast wurden.

In der Vergangenheit hat es bereits ein Verfahren gegen den Mann gegeben, das jedoch 1985 mangels Beweisen eingestellt wurde. Dass der Fall von der Staatsanwaltschaft Hannover neu aufgerollt worden ist, liegt an dem Demjanjuk-Prozess, der 2009 vor dem Landgericht München lief. Dort wurde erstmals gegen den Grundsatz des deutschen Strafrechts gegen einen Angeklagten verhandelt, dem keine konkrete Tat nachgewiesen werden konnte.

Das Gleiche gilt für den 93-jährigen Beschuldigten in Niedersachsen. Nach Abschluss des Münchner Prozesses hatte die Stelle zu Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg bundesweit Ermittlungsakten zu ähnlichen Fällen wie dem Demjanjuks verschickt – so auch nach Niedersachsen.

Gegen das Urteil des Münchner Landgerichts haben die Staatsanwaltschaft wie die Verteidigung Berufung eingelegt, über die das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden hat. Dennoch ist die Staatsanwaltschaft Hannover entschlossen, den Prozess in Lüneburg anzustrengen. „Es gibt einen hinreichenden Tatverdacht“, sagte ein Sprecher. „Wir müssen bei so schwerwiegenden Fragen handeln und können nicht weiter abwarten.“

Bei dem Beschuldigten handelt es sich um den einzigen mutmaßlichen NS-Verbrecher, gegen den zuletzt in Niedersachsen Anklage erhoben wurde, drei weitere sind bereits verstorben oder sind nicht verhandlungsfähig. Noch ist unklar, wann das Landgericht darüber entscheidet, ob es die Hauptverhandlung zulässt. Es haben sich jedoch bereits 34 Nebenkläger gemeldet.