: Marco: Haftbedingungen ganz o.k.
Anders als deutsche Medien sieht 17-Jähriger Haft in der Türkei nicht als Martyrium. Steinmeier setzt sich für den wegen sexuellen Missbrauchs angezeigten Schüler ein
Das Strafmaß: Der in der Türkei inhaftierte 17-jährige Marco W. hätte wegen seiner möglichen sexuellen Kontakte mit einer 13-Jährigen auch zu Hause ein Problem. Laut Strafgesetzbuch ist Sex mit Mädchen oder Jungen unter 14 Jahren tabu. Wer sexuelle Handlungen an einem Kind „vornimmt oder an sich von einem Kind vornehmen lässt“, kann mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Für den Missbrauch kommt es nicht auf sexuelle Erfahrenheit des Kindes an oder ob es in die sexuellen Handlungen einwilligt. Die Debatte: Doch sind sich Juristen einig, dass das ausnahmslose Gebot der Bestrafung problematisch wird, wenn es sich um erste intime Kontakte zwischen Kindern und Jugendlichen mit geringem Altersunterschied handelt. Nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung haben zwölf Prozent aller Mädchen und zehn Prozent der Jungen mit 14 erste sexuelle Erfahrungen. AFP
ISTANBUL taz ■ Der in der Türkei wegen angeblicher sexueller Misshandlung inhaftierte Jugendliche Marco W. hat den Fall aus seiner Sicht dargestellt. In einem Interview, dass die türkische Tageszeitung Hürriyet am Dienstag veröffentlichte, bestätigte der Jugendliche, dass er mit dem englischen Mädchen Charlotte intimen Kontakt hatte, weist die Initiative dazu aber dem Mädchen zu.
Der 17 Jahre alte Schüler sitzt seit Ostern im türkischen Touristenzentrum Antalya im Gefängnis und muss im Fall einer Verurteilung mit einer langjährigen Haftstrafe rechnen.
„Sie hat mich mit auf ihr Zimmer genommen“, sagt er in dem Interview. Er sei sehr aufgeregt gewesen, weil es für ihn das erste Mal gewesen wäre, und deshalb habe es auch nicht geklappt. Er legte nahe, dass das Mädchen ihn aus Enttäuschung angezeigt habe. „Ich hoffe, sie sagt in dem Prozess die Wahrheit“, wird er zitiert. Er sei geschockt gewesen, als er erfahren habe, dass Charlotte erst 13 Jahre alt gewesen sei. Als er sie in einer Disco kennen gelernt habe, habe sie gesagt, sie sei 15 Jahre.
Nach der Nacht in dem Hotelzimmer des Mädchens hatten Charlotte und ihre Mutter Marco W. bei der türkischen Polizei wegen „sexuellen Missbrauchs und versuchter Vergewaltigung angezeigt“. Nach einer gynäkologischen Untersuchung des Mädchens, bei der Spermaspuren in der Vagina festgestellt wurden, wurde Marco W. verhaftet. Tatsächlich steht bis jetzt also Aussage gegen Aussage.
Dass Marco zurzeit in Untersuchungshaft in einer Gemeinschaftszelle mit erwachsenen ausländischen Gefangenen, die überwiegend aus Osteuropa stammen, und nicht in einem Jugendgefängnis sitzt, begründete der Haftrichter so: Man habe Marco nicht unter türkische Jugendliche, mit denen er sich nicht verständigen kann, stecken wollen. Stattdessen sei er in einer Zelle mit anderen Ausländern untergebracht, mit denen er zumindest zum Teil Deutsch reden kann.
In dem Interview schildert Marco seine Haftbedingungen auch nicht als „Martyrium“, wie einige deutsche Zeitungen erfahren haben wollen, sondern sagt, es sei ganz o.k. Es gebe den ganzen Tag Hofgang, nur sei es zurzeit in Antalya so heiß, dass niemand herausgehen wolle. Das Angebot, in ein anderes Gefängnis in eine Einzelzelle verlegt zu werden, habe er abgelehnt, weil er hier ja jetzt gerade Freunde gefunden habe. Die Untersuchungshaft begründet der Haftrichter mit Fluchtgefahr, da Marco W. keinen festen Wohnsitz in der Türkei habe.
Grundlage für die Anklage gegen Marco W. ist das 1994 unter anderem auf Druck der EU reformierte türkische Strafgesetz, das Frauen besser schützt als früher und insbesondere vergewaltigten Frauen und Mädchen einen besseren Rechtsstatus einräumt. Der Prozess soll am 6. Juli beginnen. Für Marco wird entscheidend sein, ob die Engländerinnen zu dem Prozess in die Türkei reisen oder in England konsularisch vernommen werden. Letzteres könnte das ganze Verfahren erheblich verzögern.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier setzte sich auf Regierungsebene für den Jugendlichen ein. Er habe mit dem türkischen Außenminister Abdullah Gül telefoniert, sagte Steinmeier am Dienstag am Rande von EU-Türkei-Verhandlungen in Brüssel. Auch mit dem türkischen EU-Chefunterhändler Ali Babacan habe er darüber geredet. „Wir respektieren die Unabhängigkeit der türkischen Justiz“, sagte Steinmeier. Allerdings wolle er die Aufmerksamkeit aller türkischen Stellen auf den Fall lenken. Chefunterhändler Babacan versicherte, Marco W. werde fair behandelt. Allerdings könne die Regierung keinen Einfluss auf die Justiz nehmen.
JÜRGEN GOTTSCHLICH
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