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Archiv-Artikel

Zimmer frei

HILFE Ein Somalier und ein Syrer landen in Bayern. Nicht im Heim, sondern bei Privatleuten zu Hause. Und dann?

55

Millionen Menschen waren 2013 weltweit auf der Flucht. 33 Millionen von ihnen haben ihr Heimatland nie verlassen, sie sind sogenannte Binnenflüchtlinge Quelle: UNHCR

1,6

Millionen Flüchtlinge leben in Pakistan aktuell, so viele wie in keinem anderen Land. Im Libanon sind es knapp 860.000 Flüchtlinge, das ist jeder vierte Einwohner Quelle: UN

158.000

Menschen haben 2014 in Deutschland Asylanträge gestellt, über knapp 100.000 wurde entschieden. 1,7 Prozent wurden anerkannt Quelle: Bundesamt für Migration

6

Quadratmeter Wohnfläche stehen einem Flüchtling in Berlin zu. In vielen Bundesländern ist das ähnlich, manche haben keine Regelung Quelle: Pro Asyl

55

Prozent der Flüchtlinge in Deutschland leben in Wohnungen und nicht in Gemeinschaftsunterkünften Quelle: Pro Asyl

354

Euro stehen einem Flüchtling laut Gesetz im Monat zu. Oft bekommen Flüchtlinge jedoch kein Geld, sondern Sachleistungen Quelle: Bundesamt für Migration

AUS MÜNCHEN ANDREAS UNGER (TEXT UND FOTOS)

Als Rony Hemidi mit dem Rücken zum Altar der Kirche steht und 250 Menschen ihn anstarren, weiß er, dass ihm das helfen soll. Es fühlt sich nur nicht so an. Ein Mann hat ihn zum Ende der Sonntagsmesse nach vorn geholt und gesagt: Das ist Rony, 25 Jahre alt, ein Flüchtling aus Syrien, katholischer Christ. Duldung bis Frühjahr 2016, spricht Englisch, lernt Deutsch, kocht Arabisch, Familie zerstreut in alle Winde, sucht dringend ein Zuhause, wer ein Zimmer frei hat, möge sich bitte melden. Sonst drohe das Obdachlosenasyl.

Rony Hemidi blickt über die Menschen auf den Bänken der Ottobrunner Magdalenenkirche hinweg auf das bunte Fensterkreuz hinter der Orgel. „Sie starrten mich an wie einen Fremden, der in ihr Haus eindringen will. Ich weiß, sie meinten es nicht böse. Aber ich habe gezittert“, sagt Hemidi. „Ich war schüchtern und habe mich geschämt. Ich fühlte mich wie eine Ware.“ Alles war mit ihm abgesprochen, trotzdem fühlte er sich entblößt. „Zuhause habe ich ein Haus, eine Familie, Freunde. Jetzt war ich ein Almosenempfänger.“ Als es vorbei ist, geht er hinaus. Er weint.

Monika Diehl sitzt an diesem Tag in der Kirche. „Leid hat er mir getan. So weit weg von daheim, mutterseelenallein“, sagt sie. „Und jetzt wird er so vorgeführt, wenn auch mit besten Absichten.“ Wenigstens, denkt sie, werde sich hier jemand finden, der Rony Hemidi aufnimmt. Ottobrunn ist ein Vorort von München, viele Menschen haben Geld, Häuser. Die Kinder sind oft schon ausgezogen. Monika Diehl kennt einige Nachbarn mit leer stehenden Zimmern. Doch noch in der Kirche zweifelt sie. Was passiert, wenn jeder so denkt wie sie? Auch in ihrem Haus stehen Räume leer, sie ist 59, seit neun Jahren wohnt ihr jüngstes Kind nicht mehr im Obergeschoss. Also geht sie nach der Messe zu Rony Hemidi und sagt ihm, sie habe noch ein Zimmer frei.

Der Herbst ist oft kalt. Sie schlafen in Zelten

Es gibt eine neue Wohnungsnot in Deutschland. Das Land kommt nicht damit zurecht, dass die Zahl der Flüchtlinge wieder steigt. 2012 haben mehr als 77.600 Menschen einen Asylantrag gestellt, 2014 waren es bis Oktober schon doppelt so viele. In Bayern und Nordrhein-Westfalen müssen Geflüchtete trotz der Kälte in Zelten schlafen, weil es die Kommunen nicht schaffen, andere Unterkünfte für sie zu besorgen.

In solchen Gemeinschaftsunterkünften leben Asylsuchende, solange sie keinen Aufenthaltsstatus haben. Die Unterkünfte sind ständig überfüllt. Wer ein Bleiberecht bekommt, soll deshalb möglichst bald ausziehen. Neuankömmlinge brauchen den Platz.

Nach dem Auszug beginnt der Kampf um eine Unterkunft von vorn. Die Flüchtlinge können sich auf Wohnungen bewerben. Eine ehrliche Suchanzeige in der Zeitung würde dann so lauten: „Flüchtlingsfamilie, befristete Aufenthaltsgenehmigung, ohne regelmäßiges Einkommen, sucht eine günstige Mietwohnung. Angebote vorzugsweise auf Arabisch oder Assyrisch.“ Es gibt anerkannte Flüchtlinge, die im Obdachlosenasyl landen, weil ihnen niemand eine Wohnung vermieten will. Auch Hemidi hätte das passieren können, obwohl er zu denen gehört, die hierzulande noch als gut vermittelbar gelten: Er ist Christ, spricht neben Aramäisch und Arabisch fließend Englisch und gutes Deutsch.

Es gibt keine Zahlen darüber, wie viele Menschen Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnehmen. Menschen wie Monika Diehl in Ottobrunn. Oder der Architekt Philipp Althammer, der im Norden Münchens einem jungen Somali zeigen wollte, worauf es im Leben ankommt. Menschen, die das Versagen des Staates persönlich nehmen, die in der Hilfe für andere einen Sinn in ihrem eigenen Leben suchen – Menschen, die etwas tun wollen.

Die Herbstsonne scheint auf den Frühstückstisch. Croissants, Kaffee, Orangensaft, Brezen. Rony Hemidi hat Milchreis mit Kokosflocken in Rosenwasser gekocht und gelbe Rosen von der Ottobrunner Tafel mitgebracht. Mit Monika Diehl knackt er in ihrem Wintergarten Walnüsse. Vor 16 Monaten ist Hemidi in das Haus in Ottobrunn eingezogen.

Er erzählt, dass er Englisch studiert hat in Syrien und Dolmetscher werden wollte. Geflohen ist er vor dem Militärdienst. Davor, in der Armee des Diktators Baschar al-Assad für ungewisse Zeit zu verschwinden. Vielleicht für immer.

Viel mehr sagt Hemidi nicht über seine Vergangenheit, er will seine Familie in Syrien schützen. Mit seinem richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung stehen. Auch Monika Diehl heißt eigentlich anders, Rechtsradikale sollen nicht auf sie beide aufmerksam werden, sagt sie.

Um fünf Uhr morgens steht Rony Hemidi auf, er arbeitet als Kellner in einem Hotel in der Münchener Innenstadt. Außerdem besucht er einen Deutschkurs. An manchen Tagen begegnen sich Monika Diehl und Rony Hemidi kaum.

Geburtstage feiern sie gemeinsam, auch an Feiertagen sind sie zusammen. Wenn Monika Diehl um den Spitzingsee wandert, geht Hemidi manchmal mit. Wohnzimmer und Küche teilen sie sich. Für ein paar Nachbarn und die Leute vom Asylhelferkreis der Kirchgemeinde hat Hemidi einen Kochkurs angeboten: 15 Leute in einer sieben Quadratmeter großen Küche, es gab süßes Gebäck, den Brotsalat Fattoush und gefüllte Weinblätter. Monika Diehl hat ihm gezeigt, wie sie Rahmschwammerl kocht, Pilze mit Knödeln.

Leicht klingt das, wenn die beiden von sich erzählen, sie haben Glück gehabt miteinander. Die Schwierigkeiten des Anfangs schimmern da nur manchmal durch. „Ich konnte mir erst nicht vorstellen, wie das Leben mit dieser Dame aussehen sollte“, sagt Rony Hemidi. Monika Diehl ist doppelt so alt wie er. Wenn er von ihr spricht, nennt er sie Mrs. Monika.

Wenn Yasir Daacad im Juni 2014 im Haus des Architekten Philipp Althammer kocht, dann meistens nachts. Und allein. Er ist gerade eingezogen, lässt sich tagsüber kaum blicken. Spät abends kommt er vom Fastenbrechen von Freunden nach Hause, dann kocht er für den nächsten Tag vor. Es ist gerade Ramadan, der islamische Fastenmonat. Daacad ist vor vier Jahren aus Somalia geflohen, da war er 21 Jahre alt. Er nimmt den Ramadan sehr ernst.

Manchmal bekommt Philipp Althammer Yasir Daacad tagelang nicht zu Gesicht. Den „Geist des Ramadan“ nennen ihn die Frau und die Kinder.

Philipp Althammer hat einen Plan. „Das Ziel ist doch, dass er sich eine eigene Existenz aufbauen kann, und der Schlüssel dazu ist Deutsch“, sagt Althammer. „Ich habe ihm oft gesagt: Das Leben hier ist kompliziert. Wenn du nicht Deutsch sprichst, schubsen dich die Leute rum und du hängst vom Wohlwollen anderer ab.“ Also basteln sie eine Vokabelbox. Althammer rät ihm, sich Wörter zu notieren, die er nicht versteht, um sie später im Duden nachzuschlagen, den er ihm geschenkt hat. Zwei Mal pro Woche sitzen die beiden im Nachhilfeunterricht beisammen. Althammer spornt ihn an, Deutsch zu lernen. Er hält ihn an, sein Zimmer aufzuräumen. Er fordert ihn auf, nicht zu viel Zeit am Computer zu verbringen. „Ich bin kein Leistungsfetischist“, sagt Althammer. „Ich hatte moderate Ziele.“

Philipp Althammer ist ein freischaffender Architekt, erfolgreich und manchmal überarbeitet. Lange bevor Yasir Daacad bei ihm wohnt, erlebt Althammer eine Berufs- und Lebenskrise, er sucht nach Sinn. Er will „etwas mit Menschen machen, Gutes tun, helfen, praktisch“. Er ist aus seinen beiden Architekturbüros ausgestiegen. Er hat überlegt, Sterbende zu betreuen oder freiwillige Arbeit im Altenheim zu leisten. Über den „Verein für Sozialarbeit“ lernt er schließlich Daacad kennen.

Althammer, das Hemd gestreift und gebügelt, sieht vom Wohnzimmer seines Reihenhauses im Münchner Norden auf den kleinen, von Hecken umhegten Garten und den Kinder-Boxsack auf der Terrasse. Leise surrt der Miele-Kühlschrank. Auf dem Kamin steht ein Strauß getrockneter Feldblumen, daneben eine klassische Gitarre. Über dem Esstisch liegt eine weiß-rot gestreifte Tischdecke. Althammer nimmt sich Zeit beim Erzählen, sucht nach Worten. „Der Yasir hätte doch bei uns einen Schub machen können! Wir hätten ihm so viel zeigen können von der Welt! Wir haben ihm signalisiert, dass wir ihm helfen wollen. Aber Yasir wollte das gar nicht.“

Yasir Daacad besucht eine Weile die Schule. Bricht sie ab, ohne Abschluss. Fängt eine Ausbildung zum Altenpfleger an. Bricht sie ab, um als Gabelstaplerfahrer in einem Warenlager zu arbeiten. So ziemlich das einzige Deutsch, was er in dieser Zeit hört, sind die Anweisungen, die ihm sein Chef durch einen Knopf im Ohr funkt. Sein Deutsch sei schlechter geworden in dieser Zeit, sagt Althammer.

Als Daacad die Chance hat, eine Lehre als Einzelhandelskaufmann zu machen, fragt er einen Imam um Rat. Der sagt ihm, es sei für einen Muslim nicht halal, mehr als zehn Schritte mit alkoholischen Getränken in der Hand zu tun. Keine idealen Voraussetzungen, um Bierkästen vom Lieferanteneingang zu den Regalen zu schleppen. Yasir Daacad macht die Lehre nicht.

Yasir sei in seinen religiösen Regeln gefangen, sagt Philipp Althammer. Wahrscheinlich seien diese Regeln ein Halt hier in der Fremde. Man müsse verstehen: Yasir wolle ein einfaches Leben führen und keine Angst haben müssen, auf der Straße erschossen zu werden.

Das erste Mal eigene vier Wände. Wenn auch kurz

Deutsche Überforderung

Deutschland nimmt im internationalen Vergleich nur wenige Flüchtlinge auf. Trotzdem schaffen es viele Behörden nicht, sie angemessen unterzubringen.

■ Open air: Die Bayernkaserne in Freimann ist überfüllt. Flüchtlinge müssen trotz der Herbstkälte draußen schlafen.

■ Camping: Flüchtlinge leben in Duisburg in einem provisorischen Zeltlager auf einem Fußballplatz, weil die Kommune keine anderen Unterkünfte bereitstellt.

■ Blockade: In Nordrhein-Westfalen waren die zur Verfügung gestellten Flüchtlingslager derart voll, dass es einen vorläufigen Aufnahmestopp gab.

Im August 2014 zieht Yasir Daacad bei Philipp Althammer aus. Die Wohnung eines Freundes ist für eine Weile frei. Daacad hat zum ersten Mal die Gelegenheit, in seinen eigenen vier Wänden zu wohnen. Mit der Frau, die er geheiratet hat, lebt er zusammen, wenn auch nur für ein paar Wochen. Philipp Althammer vermutet, er werde bald zurückkommen. In München findet man nicht so einfach eine Wohnung.

In Ottobrunn war Monika Diehl die einzige, die Rony Hemidi aufnehmen wollte. Der Grund dafür ist nicht das Geld, die Gemeinde liegt im Landkreis München, einer der reichsten Gegenden Deutschlands. Viele Nachkommen von Flüchtlingen aus dem Zweiten Weltkrieg leben hier. Die Familie von Monika Diehls Vater wurde ausgebombt, als er zwölf Jahre alt war. Sie waren selbst auf Hilfe angewiesen. Bei ihr sind die Erinnerungen an diese Zeit noch lebendig, viele andere glauben offenbar, der Sozialstaat werde es schon richten.

Es gibt viele Gegenbeispiele. In den 90er Jahren kamen etwa 8.000 Flüchtlinge aus Bosnien bei Privatleuten unter. Im Frühjahr rief die Bundesjugendministerin Manuela Schwesig auf der Website kindertransporthilfe-des-bundes.de dazu auf, 55.000 Kinder aus Syrien privat aufzunehmen. Bereits in den ersten sieben Tagen meldeten sich 800 Menschen. Bald stellte sich heraus, dass das Ganze eine Kunstaktion des „Zentrums für politische Schönheit“ war, es wollte mehr Aufmerksamkeit auf die Not in Syrien lenken und auf die Trägheit der Bundesregierung. Eine 60-jährige Frau, die auf 150 Quadratmetern mit einem Pflegekind lebt, erbot sich, noch ein syrisches Kind aufzunehmen. Ein ostdeutscher Mann wünschte sich angesichts leer stehender Schulen und verkommender Infrastruktur nichts sehnlicher als Zuzug. Die Hilfsbereitschaft ist grundsätzlich da.

Dass es dennoch so wenige Monika Diehls und Philipp Althammers gibt, könnte daran liegen, dass bisher kein geregelter Weg für das Zusammenleben mit Flüchtlingen existiert. Weder der Staat noch die Profis der Hilfsorganisationen sind sich sicher, welche Art der Unterbringung die richtige ist. Ob es so etwas wie den richtigen Weg überhaupt gibt.

Wenn jemand mit einem Geflüchteten zusammenwohnt, haben beide Seiten zunächst einmal mit all den Problemen zu kämpfen, die in jeder Wohngemeinschaft existieren. Der oder die andere stopft den Kühlschrank mit seltsamen Dingen voll, hört die falsche Musik und benutzt viel zu lange das Bad.

Menschen bei Vereinen wie Pro Asyl reagieren deswegen oft höflich skeptisch, wenn Hilfsbereite bei ihnen anrufen und sagen, sie würden gern einen Flüchtling aufnehmen. Zwischen Helfer und Hilfsbedürftigem entsteht meist nur mit Mühe eine Beziehung unter Gleichen. Manche Flüchtlinge blieben besser in einer Gemeinschaftsunterkunft, in der Menschen dieselbe Sprache sprechen. Und jemand, der in Deutschland aufgewachsen ist, mag zwar versuchen, sich das Leben im Krieg vorzustellen. Nachvollziehen können wird er es nicht. Viele Flüchtlinge sind so traumatisiert, dass Mitbewohner ohne psychologische Ausbildung überfordert sind. In der Schweiz haben Menschen, die Flüchtlinge bei sich aufnehmen wollen, einen Verein gegründet. Sie geben ihre Ratlosigkeit offen zu. Was sie leisten und anbieten müssen, um zu helfen, dafür gebe es keine verbindlichen Kriterien. „Es fehlt uns schlicht an Erfahrungen“, sagt Stefan Frey von der Schweizer Flüchtlingshilfe dem Züricher Tagesanzeiger. „Wir lassen uns vom gesunden Menschenverstand leiten.“

Ganz grundsätzlich stellt sich zudem die Frage, ob es solche Hilfsbereitschaft dem Staat zu leicht macht, sich vor einer angemessenen Unterbringung von Flüchtlingen zu drücken.

Manchmal schafft es Rony Hemidi, jemanden aus seiner Familie anzurufen. Dann kommt er spät abends noch zu Monika Diehl ins Wohnzimmer. Die schaltet den Fernseher aus und hört Hemidi zu, oft bis nach Mitternacht. Er redet über seine beide Schwestern in den USA und in Syrien, über den älteren Bruder im Libanon, über den jüngeren Bruder, der eben am Telefon vom Krieg gesprochen hat; über seinen Vater, einem arbeitslosen Baggerfahrer, der gegen Hemidis Flucht war, weil er ihn in seiner Nähe wissen wollte in Zeiten der Not; über seine Mutter, die dafür war, weil sie ihn in Sicherheit wissen wollte. „Sie stehen zwischen den Regierungstruppen, der Freien Syrischen Armee und dem Islamischen Staat“, sagt Rony Hemidi. „Ich hoffe so sehr, dass sie nicht zerrieben werden.“ Monika Diehl sagt nicht viel. Sie hört zu.

„Manchmal beten wir still gemeinsam“, sagt Hemidi. „Wir bitten Gott um Hilfe, dass er die Menschen zur Einsicht bringt, mit dem Wahnsinn aufzuhören.“

Der Staat lässt Menschen, die mit Geflüchteten zusammenleben, weitgehend allein. Es gibt keine Stellen, die unbürokratisch helfen oder Hinweise geben, nicht einmal offizielle Leitfäden, wie sich wenigstens ein paar grobe Fehler vermeiden ließen. Die Behörden bezahlen zwar häufig die Miete. Für den Zeitaufwand und eventuelle Weiterbildungen gibt es hingegen keine Unterstützung.

Monika Diehl bekommt Geld dafür, dass Rony Hemidi bei ihr wohnt. 350 Euro für Miete und andere Wohnkosten überweist das Amt monatlich. Philipp Althammer hat gar kein Geld erhalten, er hat sich aber auch nicht darum bemüht. Er wollte einfach helfen, eine Bezahlung habe er dafür nicht gebraucht, sagt er.

Hannelore Kraft, die sozialdemokratische Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, hat vor Kurzem angekündigt, ehrenamtliche Helfer stärker zu unterstützen und bis zu einem Viertel mehr als bislang für die Unterbringung von Flüchtlingen in Kommunen zu bezahlen. Ein Bundestagsabgeordneter der CDU hat vorgeschlagen, bürokratische Hürden für private Unterbringungen abzubauen.

Seit mehr als zwei Jahren hat Rony Hemidi seine Eltern und Geschwister nicht mehr gesehen. Und in Monika Diehls Haus war es ziemlich still, seit ihre drei Kinder nicht mehr bei ihr wohnen. Vor fünf Jahren ist ihr Mann gestorben. „Seitdem weiß ich: Morgen kann das Leben vorbei sein.“

Monika Diehl ist Schöffin im Landgericht München I, im Asylhelferkreis ist sie Ansprechpartnerin für Behörden, sie ist Mitglied im Arbeitskreis Ökumene, geht ins Theater und zum Wandern, sie trägt Pfarrbriefe aus, besucht eine Gymnastikgruppe. Sie arbeitet Teilzeit in einer Steuerkanzlei. Auch für Hemidi stellt sie Anträge, scannt seine Gehaltsabrechnungen und schickt sie an den Sachbearbeiter des Landratsamts, der seine Hartz-IV-Bezüge berechnet. Auch den Antrag auf Familienzusammenführung hat sie für Hemidi ausgefüllt. Im Winter 2013 hat er ihn gestellt.

Die Antwort vom Ausländeramt fehlt noch immer. „Nach dem Tod meines Mannes wollte ich nicht in ein Loch fallen“, sagt Monika Diehl. „Da ist es gut, wenn ich in Bewegung bleibe.“ Rony Hemidi bewundert diese Energie. Er sagt: „Mrs. Monika trägt eine Menge Wassermelonen.“

Rony Hemidi und Monika Diehl geben sich gegenseitig Halt, sie stützen sich hier und da in Momenten der Einsamkeit. Hilfe ist selten völlig selbstlos. Das ist nicht schlimm, es macht Beziehungen tragfähiger, wenn beide Seiten etwas von ihr haben. Sie müssen sich nur darüber klar sein, dass es gegenseitige Erwartungen gibt.

Yasir Daacad teilt sich inzwischen eine 25 Quadratmeter große Wohnung mit einem Freund, dort, wo die Glasfronten des Münchener Baubooms auf Mietskasernen mit winzigen Blechbalkonen treffen.

Hier gibt es Hilfe

Einige Hilfsorganisationen versuchen, private Wohnungen und Zimmer an Geflüchtete zu vermitteln.

■ Die Prominenten: Pro Asyl versteht sich nicht als Zimmervermittlung. Aber viele Menschen wenden sich an die Organisation, weil sie den Namen kennen.

■ Die Kirchlichen: Unter anderem das Evangelische Jugend- und Fürsorgewerk und die Caritas vermitteln Wohnraum.

■ Die Regionalen: Es gibt so unterschiedliche Gruppen wie den Bayerischen Flüchtlingsrat und die Initiative Solizimmer, die in Berlin und Potsdam aktiv ist.

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Es ist ein feuchtkalter Novemberabend, er trifft sich mit Philipp Althammer in einem Café in der Nähe. „Heute sitze ich neben dem Chef!“, sagt Yasir Daacad und grinst. Philipp Althammer muss lachen. Alles an Daacad ist sanft: Sein Händedruck, seine Stimme, sein Blick, wenn er nach dem richtigen Wort sucht in einer Sprache, die noch nicht die seine ist. „In Somalia haben sie gesagt, ich bin verrückt, nach Deutschland zu kommen. Sie haben gesagt, dass sie dort Leute verbrennen.“

Von seiner Flucht und seinem Leben in Somalia soll in der Zeitung nur stehen, was seine Familie nicht in Bedrängnis bringt: dass sein Vater im Parlament saß. Dass er es war, der ihn nach Deutschland geschickt hat, in der Hoffnung auf ein besseres, sicheres Leben. Dass einer seiner Brüder von einer Einheit der islamistischen al-Shabaab-Milizen getötet worden ist. „Was die Vergangenheit ist, muss ich vergessen.“

Yasir Daacad sagt, Althammer habe ihm viel geholfen. „Er hat mir ein eigenes Zimmer mit Bad und Toilette gegeben. Ich habe mit seiner Familie gelebt. Wir haben zusammen gegessen. Sie haben mir den Schlüssel für ihre Wohnung gegeben. Sie haben mir vertraut. Sie sind nach Griechenland gefahren, als ich gearbeitet habe.“

In der Zeit sei die Katze richtig dick geworden, sagt Althammer. „Du hast mir gesagt, ich soll mich gut um sie kümmern“, sagt Yasir Daacad. „Also habe ich sie Tag und Nacht gefüttert.“

Manchmal gefällt es Yasir Daacad, Philipp Althammer zu siezen. „Herr Althammer hat gesagt, ich soll Deutsch lernen und mich um die Schule kümmern. Herr Althammer hat recht“, sagt er.„Aber ich habe nicht immer recht“, sagt Philipp Althammer dann. „Er hat immer recht“, sagt Yasir Daacad. „Das klingt ja fast ein bisschen … Manchmal bin ich eben ein bisschen ungeduldig“, sagt Althammer. „Aber er ist ungeduldig, weil er immer recht hat“, sagt Yasir Daacad.

Vielleicht stand Althammer sein Ehrgeiz im Weg. Der Ehrgeiz eines Mannes, der sich nicht nur um seines Gastes, sondern auch um seiner selbst willen eine bessere Performance gewünscht hatte. Und vielleicht stand ihm auch eine Hoffnung im Weg. Die Hoffnung auf ein Tauschgeschäft: Althammer gibt Daacad Obdach, und der hilft Althammer aus der Sinnkrise.

Drei Monate ist es her, dass Daacad bei Familie Althammer ausgezogen ist. „Ich habe Yasir mittlerweile als Menschen endgültig annehmen und auch meine Rolle als Förderer relativieren können“, sagt Philipp Althammer. Er spricht von einem „wechselseitigen Lernprozess“, und von einem fließenden Übergang zwischen „wohlwollendem Engagement“ und „ungebremstem Ehrgeiz“. Er sei eben kein Pädagoge, „da macht man sich vielleicht Wunschvorstellungen und nimmt sich zu viel vor.“

Was seinen Sinneswandel bewirkt hat, kann Althammer nicht genau sagen. Er erzählt stattdessen eine Geschichte: Ende August 2014 drohte sein neunjähriger Sohn Gregor nach einer Operation an einer Medikamentenvergiftung zu sterben. Yasir Daacad und seine Frau hatten eigentlich die Althammers zu sich zum Essen eingeladen – die das Treffen absagten. Daacad ließ alles stehen und liegen, fuhr von seiner Wohnung am anderen Ende Münchens mit S-Bahn, U-Bahn und Bus, kaufte am Hauptbahnhof noch schnell Chips und Süßigkeiten und stand auf einmal vor Althammers Haustür. Er hat Gregor für seine Genesung geschenkt, was der brauchte – keine Vitamin-C-Bonbons, keine Heilmittel aus der Apotheke, sondern fettiges Knabberzeug. Yasir war da für Gregor, er war Familie. Die beiden bröselten gemeinsam die weinrote Couch im Wohnzimmer voll, machten Quatsch und lachten miteinander. Althammer sagt heute, er wolle „den anderen lassen, wie er ist und ihm nichts überstülpen“.

Vor Kurzem hat Daacad Althammer erzählt, dass Schweißer ein schöner Beruf wäre. Dass er gerne die Abendschule besuchen möchte, um den Hauptschulabschluss nachzuholen. Und er hat Althammer gefragt, ob er ihn wieder in Deutsch unterrichten würde. Althammer hat gezögert. „Ich hoffe, dass Yasir diesmal ein bisschen mehr will. Und ich ein bisschen weniger.“ Dann hat er zugesagt.

Andreas Unger, 37, ist freier Journalist in München