: Die perfekte Schnipp-Technik
Billard ohne Queue: Beim indischen Brettspiel Carrom kommt es ausschließlich auf die feine Fingerfertigkeit der Spieler an. In knapp zwei Wochen startet die Europameisterschaft in Dortmund
Carrom ist eine entfernte Variante des Billards und hat in Indien den Status eines Volkssports. Die besten Spieler dort sind Profis und trainieren den Sport am Holzbrett acht Stunden am Tag. Ziel des Spiels ist es, kleine Holzplättchen mit den Fingern in Ecklöcher des quadratischen Spielfelds zu schnippen. Anfang Mai trafen sich die talentiertesten deutschen Spieler in Dortmund, um den deutschen Meister zu ermitteln. Und im Juli gilt es, an gleicher Stelle den Europameister auszuspielen. Reinschnuppern und erste Erfahrungen mit dem Spiel sammeln, kann man jede Woche montags in Dortmund. Ab 19 Uhr treffen sich die Carrom-Fans in der Kneipe „Trödler“, Nähe Hauptbahnhof in der Josephstraße 21. Die Carrom-Gemeinde versucht seit Jahren in mehreren Initiativen, das Brettspiel zu einem offiziell anerkannten Sport zu entwickeln – bislang ohne Erfolg. Die 11. Europameisterschaft im Carrom findet vom 13. bis 15. Juli im Haus Husen in Dortmund statt. Zu diesem Turnier werden 120 Spieler aus ganz Europa erwartet. Es werden Sportler aus Frankreich, England, Italien, den Niederlanden, der Schweiz, Spanien und natürlich Deutschland an den Start gehen.
VON FALKO PYKK UND HEIKE ZIELASKO
15 Sekunden hat Peter Böcker Zeit, um den nächsten Spielzug auszuführen. Der ehemalige Europameister klemmt den Zeigefinger hinter den Daumen und lässt ihn gegen den Spielstein schnellen. „Ich nutze so die zentrische Kraft des Daumens“, erklärt er. Sein Spielstein, der Striker, kickt einen weißen Stein ins linke Eckloch. Damit ist der Dortmunder weiter im Spiel.
Die Carrom-Regeln sind dem Pool-Billard entlehnt. Mit dem Striker, beim Pool wäre das die weiße Kugel, muss man seine Steine vom Brett entfernen und sie in die Ecklöcher schnippen. Zum Schluss muss anschließend ein roter Stein, die Queen, versenkt werden – wie beim Pool-Billard die schwarze Kugel. Die Regeln erinnern nicht von ungefähr an die beliebte Billard-Variante. Eine nicht belegte Entstehungsgeschichte des Carrom-Spiels setzt in der Kolonialgeschichte des britischen Empires an: Im 19. Jahrhundert sollen sich die Briten in ihrer indischen Kolonie am Billardtisch die Zeit vertrieben haben. Da die indische Bevölkerung nicht das Geld für eigene Tische hatte, erfand sie eine einfache Variante, die überall gespielt werden konnte. Es entstand das quadratische Brett mit Bande und einem Loch in jeder Ecke.
„Die Regeln sind einfach und jeder Anfänger erlebt schon schnell Erfolgserlebnisse“, sagt Frank Mohn, erster Vorsitzender des RCS Dortmund. Um jedoch auf Turnieren mithalten zu können, ist ein regelmäßiges Training erforderlich. „Nach einem Jahr ist man wettbewerbsfähig“, erklärt Dirk Polchow vom Carrom Club Coma, Zweiter der deutschen Rangliste.
Die Kunst des Carrom-Spiels besteht aus einer Mischung von Geschicklichkeit und Taktik. Zum einen muss man sich eine perfekte Schnipp-Technik aneignen. Zum anderen gilt es, das Spiel zu lesen. Die wirklich guten Spieler denken immer einige Spielzüge voraus. Sie überlegen sich, wie sie das Spiel des Gegners möglichst schwierig gestalten und ihre eigenen Steine günstig vor die Löcher legen können. Das Ganze wird von einem Stuhl aus gespielt. „Bei meinem ersten Spiel bin ich immer um das Brett gelaufen. Die Stühle waren mir neu. Mir musste erst einmal jemand die Regeln erklären“, so Mohn. Carrom wird Mann gegen Mann, Frau gegen Mann und Frau gegen Frau gespielt. Eine Doppel-Variante des Spiels ist ebenfalls möglich. Auch dabei wird zwischen den Geschlechtern kein Unterschied gemacht.
In Deutschland gibt es rund hundert Carrom-Spieler, die in Vereinen organisiert sind. 30 davon allein in Dortmund beim RCS (Remote Controlled Striker), der seit Anfang der neunziger Jahre existiert. Im RCS spielen Mitglieder im Alter von 14 bis 65 Jahren. Und das sehr erfolgreich. Der Verein ist deutscher Mannschaftsmeister und stellt mit Peter Böcker auch den amtierenden deutschen Einzelmeister. „Ich trainiere etwa zehn Stunden pro Woche. Das Pensum erfüllt ein indischer Profi in nicht einmal zwei Tagen“, zeigt er die Relationen auf. In Indien ist Carrom Volkssport. Es wird dort an jeder Häuserecke gespielt und ist für viele Familien Zeitvertreib am Abend.
Im Mai veranstaltete der RCS das zweite Turnier zur Offenen Deutschen Meisterschaft – der Deutsche Meister wird während eines Jahres auf vier Turnieren ermittelt – und Peter Böcker setzte sich mit 25 zu 5 gegen Kunaseelan Sivarasa, ebenfalls aus Dortmund, durch. Er ist damit nicht nur Favorit für den Titel des Deutschen Meisters, er gilt auch als Kandidat für den Eurocup im Juli. Bei dem Turnier zur Offenen Deutschen Meisterschaft nahmen Spieler aus ganz Deutschland teil. Aus Bergisch Gladbach, Wuppertal, Heilbronn, Darmstadt und aus dem Berliner Raum waren Spieler zu dem Turnier um die Deutschen Meisterschaften angereist. Sie waren jedoch gegen den starken Dortmund RCS nahezu chancenlos. Höchstwahrscheinlich wird der Dortmunder Routinier Peter Böcker auch in diesem Jahr wieder deutscher Einzelmeister. Zwei Turniere müssen noch in diesem Jahr ausgetragen werden, dann steht endgültig fest, an wen der begehrte Pokal geht.
Um die Leistungsstärke zu steigern, aber auch um sich kulturell auszutauschen, pflegt der Dortmunder Verein einen intensiven Kontakt nach Asien. Im Jahr 2005 war zum Beispiel die indische Nationalmannschaft zu Gast im Ruhrgebiet und zeigte im Casino Hohensyburg ihr Können. Seit etwa 15 Jahren wird dieser Austausch gepflegt. Peter Böcker war schon einige Male in Indien und trainierte mit den besten Spielern der Welt. „Die Profis dort absolvieren vor den Spielen Yoga-Übungen und stärken ihre Augenmuskulatur mit speziellen Trainingseinheiten“, sagt er.
Die offiziellen Turnierbretter des Deutschen Carrom Verbandes kosten rund 250 Euro. Für Einsteiger gibt es im Fachhandel aber auch Varianten ab 50 Euro. Kinder und Jugendliche reicht oft schon ein Juniorboard mit einer kleineren Spielfläche. Wichtig für ein gutes Brett sind die Banden. Sie sollten die notwendige Dicke aufweisen. Dünne Banden verziehen sich schnell und die Spielsteine prallen unkontrolliert von ihnen ab. Achten sollte man auch auf eine ebene Spielfläche. Beim Kauf empfiehlt es sich deshalb, eine Wasserwaage mitzunehmen und die Spielfläche auszutarieren.