Ortstermin: Bad Religion beim Deichbrand-Festival
: Aufklärung aus den Achtzigern

Die erste Kassette hieß „How could hell be any worse?“ – für manchen Landjugendlichen ein überaus anschlussfähiges Motto

Das durchgestrichene Kreuz, ihr Symbol, war schon immer da. In den Achtzigern hatte es irgendwie den Weg aus Los Angeles ins norddeutsche Flachland geschafft. Das Poster hing in Jugendzimmern, das Graffiti im Schulhof und es verbreitete eine Ahnung von Subversion, als der einzige Punk, den man bis dahin zu Gesicht bekommen hatte, im Fernsehen Werbung für Tomatenketchup machte. Das Kreuz war die Projektionsfläche für alles, was einem damals schon stank. Die erste Kassette hieß „How could hell be any worse?“, und für das Lebensgefühl mancher Landjugendlicher war das ein überaus anschlussfähiges Motto.

Heute gibt es keine Kassetten mehr. Bad Religion schon. Als der Sänger der US-Punkband, Greg Graffin, am Sonntagnachmittag auf die Bühne in Nordholz bei Cuxhaven tritt, läuft das Deichbrand-Festival seit 53 Stunden und ebenso lange hat es durchgeregnet. Schutz bietet nur ein Partyzelt, gesponsert von Partyschnaps.com, die sich damit das Recht erkauft haben, dort ihren Likör namens „Ficken“ anzubieten. Im Spielekonsolen-Werbebus werden digitale Schlachten geschlagen, Betrunkene stehen an der Karaoke-Bühne des Tabakwaren-Sponsors Schlange, eine Merchandising-Drückerkolonne von Pizza.de verteilt aufblasbare Gummi-Gitarren und Sonnenbrillen mit dem Firmenlogo, durch die man nicht hindurchsehen kann.

Greg Graffin hat ein zehnseitiges Manifest darüber geschrieben, was Punk ist. Es gipfelte in der These, dass es sich dabei um „eine Bewegung epischer Proportionen“ handelt, „die das kurzlebige Hier-und-Jetzt transzendiert, und dieses tun wird, solange Menschen die Erde bewohnen“. Trotzdem hat der Atheist und Anarchist es bis zum Professor für Evolutionstheorie gebracht, die säkulare Gesellschaft der Harvard-Universität zeichnete ihn mit dem „Salman-Rushdie-Preis für Humanismus“ aus.

Auf der Bühne sieht er mit seiner ausladender Gestik und dem schwarzen Hemd aus wie ein Fernsehprediger. Er ist 47, manche Zuhörer tragen zu den Pizza.de-Brillen „Abitendo – Level 12 completed“-Pullis. Nach den Metal-Bands zuvor wirkt der Auftritt, als habe man sich Stöpsel in die Ohren gesteckt. Ein paar Klopapierrollen werden hochgeworfen, der Pogo fällt so moderat aus, dass die Security sogar das eigentlich strikt verbotene Crowdsurfing toleriert.

Viele der Punkbands, denen Bad Religion den Weg bereitet haben, lassen die immer gleiche Leier über George Bush, die Weltbank oder „Großkonzerne“ ab. Graffin beschränkt sich weitgehend darauf, zu singen. Während er seine in der Zeit des Kalten Krieges geschriebene Vision des atomaren Fallouts vorträgt, fliegt einer der 4,50 Euro teuren Bierbecher durch die Luft und sorgt in einer Gruppe der Abiturienten für Entsetzen. Sie wischen sich die Spritzer von den Jacken und schauen aus Angst vor weiteren Attacken noch eine Weile aufmerksam nach hinten.

Das Problem daran, Punk zu sein, schreibt Graffin am Ende seines Manifests, liege darin, dass viele Menschen „den Wert nicht erkennen können, der im Infragestellen oder Provozieren der Institutionen liegt, denen man die eigene Betäubung zu verdanken hat“. Er wird sich dem noch lange widmen können.

CHRISTIAN JAKOB