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Archiv-Artikel

Streckenweise Unruhe

Der Lok-Führer-Streik bringt im Norden niemanden so recht in Wallung: Pendler zu spät bei der Arbeit, aber solidarisch, Reisende irrittiert – und S-Bahnkunden gelingt in Hamburg der Umstieg auf Busse. Die sind allerdings proppenvoll

Im gesamten Zugverkehr kam es gestern ab 5 Uhr früh zu Behinderungen. Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) hatte ihre Mitglieder zu einem vierstündigen Warnstreik aufgerufen. Der Fernverkehr im Norden war zeitweise völlig zum Erliegen gekommen. Intercity-Verbindungen mussten gestrichen werden. Was spielte sich auf den Bahnhöfen ab? Wer waren die Streikopfer? Wer fiel in Ohnmacht? taz nord hat’s gesehen.

Bahnhof Bremen: Riesen-Verwirrung

Die Akustik ist schlecht im Bremer Hauptbahnhof. Lautsprecherdurchsagen durchschneiden einander, mischen sich im Hall: „zum Info-Point, Auf Gleis 2 Süd, Sie werden erwartet, Auf Gleis 2 Süd fährt heute abweichend Herr Schlingbäumer…“ Ist wirklich das Bahn-Chaos ausgebrochen? Hätte heute Bild nicht gelogen? Glauben Sie an den Osterhasen? Die Tafel, auf der Abfahrten und Verspätungen elektronisch angezeigt werden, ist erloschen. Funktioniert nicht. Das ist schon öfters vorgekommen. Oder hätte man sie abgeschaltet? Was für eine perfide Streikstrategie! Denn: Nichts ist verwirrender, als auf Kulturtechniken zurückgreifen zu müssen, die man für obsolet gehalten und sich abgewöhnt hatte.

Bei den gelben Fahrplanaushängern bilden sich Menschentrauben. Die Reisenden haben Handtaschen und Koffer wie Barrieren vor sich aufgebaut. Verunsicherte Menschen recken sich darüber und versuchen, das Kleingedruckte zu entziffern. Ab und zu geraten sie ins Wanken: Immer, wenn ein weiterer Informationshungriger von hinten dazustößt, pflanzt sich der kleine Impuls bis in die erste Reihe fort. Dass da man keiner stürzt! Auf Gleis 9 steht ein leerer Zug, der auch leerbleiben soll. Später um kurz nach Punkt 9 Uhr wird ein Streik-Kontrolleur den Zug abgehen, fluchen, in Sächsisch, „den hamse vergäsen!“, dann ins Handy schreien, er habe hier einen herrenlosen Zug! Auf Gleis neun! Der ICE 808 Richtung Hamburg weicht auf Gleis 10 aus. Das kommt alle 14 Tage vor. Er ist nachts in Basel abgefahren. Laut Plan trifft er um 9.20 Uhr ein. Vergangene Woche hatte der Zug 30 Minuten, als im vergangenen Winter einmal Schnee gefallen war 55 Minuten Verspätung – 20 sind es am Streiktag.B. SCHIRRMEISTER

Pendler-Pech im Großraum Hamburg

Allein zwischen Lübeck und Hamburg nutzen täglich rund 50.000 Menschen die Bahn – Berufspendler. Fahrgäste, die schon im Zug nach Kiel sitzen, werden plötzlich via Lautsprecher informiert: „Der Zugführer fehlt leider, deshalb kann der Zug heute nicht verkehren.“ Wenn doch ein Regionalzug Hamburg verlässt, weil ein verbeamteter Lokführer eingesetzt wird, endet die Fahrt oft an den Stationen des Hamburger Speckgürtels: Güterzüge blockieren die Hauptstrecken. Bei der S-Bahn kommt es während der rush-hour dagegen nur zu Verspätungen. K. VON APPEN

Eine Piepsstimme in der S-Bahn

Um 11 Uhr ist die Fahrt zu Ende. Im S-Bahnhof Altona bleiben die Passagiere der S 31 stoisch im Wagen sitzen und ignorieren die Durchsagen, nach denen sich „die Abfahrt um unbestimmte Zeit“ verzögert. Dann schlägt die freundliche Piepsstimme aus dem Lautsprecher vor, streikfreie Busse zu nutzen. Coole Idee! Über Rolltreppen drängeln die verhinderten S-Bahn-Passagiere ans Tageslicht. Zum Busbahnhof. In Sekunden ist der Bus Richtung Hauptbahnhof proppenvoll. An den Haltestellen drängen sich Reisende trotzdem hinzu.

„Ich arbeite frei“, sagt eine der Glücklichen, die es in Altona hinein geschafft hatte. „Da interessiert es niemanden, ob die S-Bahn streikt.“ „Aber die Lokführer verdienen wirklich zu wenig“, erwidert eine Mitreisende. „So müssen es eben alle ausbaden.“ Zum S-Bahnstreik aufgerufen hatten die Gewerkschaften Transnet und GDBA – der Hamburger Hauptbahnhof war damit für eine Stunde stillgelegt. „Das hat natürlich zu großen Problemen geführt“, sagte ein S-Bahnsprecher zur taz.K. CHRISTMANN

Zorn und Stille in Harburg

Die Bahnhofshalle leer, kein Gedränge auf den Gleisen, keine Hektik: Der Bahnhof Harburg ist gestern zwischen sechs und neun Uhr morgens ein ziemlich ruhiges Plätzchen. Zwar fallen einige Regionalzüge aus und auch die S-Bahn kommt ein wenig aus dem Takt. Vom medial vorhergesagten „Bahn-Chaos“ jedoch: keine Spur.

Stattdessen Verständnis für die streikenden Lokführer. „Ein Streik ist doch das einzig wirksame Druckmittel“, sagt Franziska Tölke. „Ich finde das völlig okay, obwohl ich heute zu spät zur Arbeit komme und die Verspätung nacharbeiten muss.“ Die wenigen Pendler, die gestern vom Harburger Bahnhof aus zur Arbeit wollen, haben sich bewusst für die Bahn entschieden. Sie sind auf Wartezeiten eingestellt. „Haltet durch, macht weiter so“, ruft ein älterer Herr im Vorbeigehen den Lokführern zu, die sich mit ihren Fahnen und Plakaten gegenüber vom verwaisten Service Point postiert haben.

„Ich bin seit 17 Jahren Lokführer und verdiene 1.300 Euro netto“, sagt Christian Sternberg. Sternberg streikt, mit seinen Kollegen und er findet, es sei „kein Wunder, dass unter diesen Bedingungen bundesweit mehr als 1.000 Lokführer fehlen“. M. SCHWAN