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Archiv-Artikel

„Sofort wissen, was gemeint ist“

IKONISCH Sein Foto wurde über Nacht zum Symbol der Istanbuler Gezi-Proteste: Fotograf Daniel Etter spricht darüber, wie es ist, die Kontrolle über das eigene Bild zu verlieren

Daniel Etter

■ Jahrgang 1980, ist Fotograf und Journalist. Sein Foto von den Gezi-Protesten wurde vom Time Magazine und der New York Times zu einem der zehn besten Bilder des Jahres 2013 gewählt.

INTERVIEW MARLENE HALSER

taz: Herr Etter, wie ist dieses Bild entstanden?

Daniel Etter: Im Sommer 2013 lebte ich in Istanbul. Zu dieser Zeit gab es ständig kleinere Demonstrationen in meiner Gegend. Bis dahin war das keine große Sache. Ich habe nicht damit gerechnet, dass aus dem kleinen Protestcamp im Gezipark eine große Bewegung entstehen würde. Also flog ich in die Ukraine, um eine andere Geschichte zu recherchieren. In Kiew angekommen, las ich auf Twitter und in anderen Medien, was in Istanbul los ist – und flog sofort wieder zurück. Das Bild entstand noch am selben Abend. Die Demonstranten wollten zu Erdogans Amtssitz marschieren, wurden jedoch von der Polizei aufgehalten. In der Nähe des Dolmabahce-Palastes hatten sie Barrikaden aus Absperrgittern errichtet. Sie bewarfen die Polizisten mit Steinen, und die Polizei beschoss die Demonstranten ohne Unterlass mit Tränengas. Ich trug eine Gasmaske, und selbst für mich war es schwer, unter diesen Umständen zu arbeiten. Der Mann auf dem Bild löste sich trotzdem immer wieder von anderen Demonstranten, ging nach vorne, um die Fahne zu schwenken, und blieb so lange stehen, bis er zusammengebrochen ist. Dann hat er sich kurz zurückgezogen, Luft gesammelt und das Gleiche noch ein paar Mal gemacht.

Noch an demselben Abend haben Sie das Bild auf Facebook gepostet. Was geschah dann?

Erst mal nicht viel, vielleicht ein paar wenige Likes. Bis ein türkischer Freund das Bild teilte. Dann ist die Sache explodiert. Innerhalb weniger Stunden wurde das Bild 10.000-mal geteilt. Das liegt vermutlich auch daran, dass die Proteste am Abend vorher erst Fahrt aufgenommen hatten und es das erste ikonische Bild war, das kursierte. Hunderte Menschen verwendeten es als Profil- oder Titelbild. Zwei Tage später gab es das Bild als Poster und T-Shirt im Gezipark zu kaufen. Freunde haben mir berichtet, dass es später auch auf Postern in Berlin zu sehen war. In Izmir wurde sogar eine Statue errichtet, die das Motiv zeigt.

Wie finden Sie das?

Natürlich fühlt man sich geschmeichelt und geehrt, wenn so etwas geschieht.

Sie sind als Fotograf darauf angewiesen, für die Verwendung Ihrer Bilder bezahlt zu werden. Stört es Sie nicht, wenn das ohne Ihre Erlaubnis geschieht?

Das Bild hat Geld eingebracht, mehr, als ich normalerweise mit einem Bild verdiene. Die Businessweek hat es als doppelseitiges Titelbild einer Geschichte über die Proteste verwendet. Und im Time Magazine füllte es eine Doppelseite in einem Jahresrückblick. Auch in einigen anderen Jahresrückblicken war es zu sehen. Dass die Regierungsgegner es sich angeeignet haben und es in so vielen Kontexten verwendet wurde, finde ich kurios. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, die Anwälte loszuschicken. Zumal die Gezipark-Souvenirs ja keine wirklich kommerzielle Sache sind. Solange mein Bild nicht in einem völlig verzerrenden Zusammenhang verwendet wird, ist das okay.

Zwischenzeitlich wurde das Bild sogar mit Eugène Delacroix’ „Die Freiheit für das Volk“, einem Bild der Französischen Revolution, verglichen. Können Sie das nachvollziehen?

Was die Ästhetik, den Bildaufbau und die Farben betrifft, besteht schon eine große Ähnlichkeit. Auch die Situation ist ähnlich. Aber das ist nichts, was man als Fotograf bewusst plant. Klar, man macht sich Gedanken über das Bild und die Komposition. Aber man denkt dabei nicht an Kunstgeschichte. Ob ich aber die Französische Revolution mit den Gezi-Protesten vergleichen würde, ist eine andere Frage.

Wissen Sie eigentlich, wer der Mann auf dem Bild ist?

Mittlerweile ja. Gökhan, so heißt er, hat mich irgendwann auf Facebook ausfindig gemacht.

Und was hält er von all der Aufmerksamkeit?

Er hat sich das Bild kürzlich auf das linke Schulterblatt tätowieren lassen. Er ist sehr stolz darauf, der Mann auf diesem Bild zu sein. Er war es übrigens auch, der mich auf die Statue in Izmir aufmerksam gemacht hat. Ohne ihn hätte ich nie davon erfahren.

Herr Etter, wann hört ein Bild auf, Ihr Bild zu sein?

In dem Moment, in dem es zu einem eigenständigen Symbol wird. Wenn andere Menschen das Bild sehen und sofort wissen: Das war für uns Gezi, das war der Sommer 2013. Wenn es also automatisch als visueller Trigger funktioniert, ohne dass eine zusätzliche Erklärung nötig ist. Normalerweise braucht ein Bild ja immer eine Erklärung, einen Zusammenhang. Das kann eine kurze Bildunterschrift sein oder eine lange Reportage. Aber ohne diese sehe ich nur ein Motiv und kann es nicht richtig einordnen, Menschen auf einer Demonstration zum Beispiel oder Menschen, die hungern, oder solche, die tanzen. Das Bild funktioniert zwar visuell, aber es sagt mir nichts. Bei diesem Bild ist das anders. Hier sind die zusätzlichen Informationen im kulturellen Gedächtnis derer gespeichert, die an den Protesten teilgenommen haben. Sie wissen sofort, was gemeint ist, wenn sie das Bild sehen. Es bedeutet etwas für sie. In diesem Moment habe ich keine Kontrolle mehr und meinen Einfluss auf das Bild verloren.