: Gesundes Murmeltierpolster
Jedes Pfund zu viel erhöht das Risiko, krank zu werden. So wird allgemein angenommen – doch wissenschaftliche Belege für diese Aussage stehen noch aus. Ganz im Gegenteil, einige Studien zeigen, dass Menschen mit etwas Übergewicht länger leben
VON KATHRIN BURGER
Die Botschaft ist angekommen: Wer dick ist, ist nicht nur unansehnlich sondern auch potenziell krank. Das glauben laut einer Studie der Universität Marburg 50 Prozent der Deutschen. Kein Wunder – schließlich debattieren Wissenschaftler, Ärzte, Krankenkassen, Politiker und Medien das Thema mit den Worten „Epidemie“, das Fett wird zum „Risikofaktor“ oder gar zum „Killer“ und es gilt den „Kampf gegen die Pfunde“ aufzunehmen, zumal „ernährungsbedingte Krankheiten in erheblichem Maße den Steuerzahler belasten.“
Doch so einfach ist das nicht. Tatsache ist, dass die Wissenschaft nicht genau beantworten kann, was zu viele Pfunde anrichten. Gesichert ist lediglich: Übergewicht führt zum Diabetes Typ-2 mit den bekannten Komplikationen. Das gilt auch umgekehrt: Das Ungleichgewicht im Zuckerstoffwechsel kann man mit einer Abspeckkur wieder geraderücken. Dass Dicke häufiger an Herzinfarkt und Dickdarm- oder Brustkrebs erkranken, dafür gibt es lediglich Hinweise. Ob Pummelige deswegen aber früher sterben als schlanke Zeitgenossen wird aktuell in der Fachwelt heftig diskutiert.
Ein Grund für die Kontroverse: der Body-Mass-Index (BMI). Ein BMI von 20 bis 25 gilt per Definition als Normalgewicht. Das ist das Gewicht, das die meisten Lebensjahre verspricht. Allerdings gibt es dazu unterschiedliche Befunde. In einer Studie, erschienen 2006 im New England Journal of Medicine, ist bereits ein nur geringfügig hoher BMI gefährlich für die Gesundheit. Andere Studien sagen: Dicke Menschen mit einem BMI von mehr als 30 leben sogar länger. Stimmen werden daher laut, das Normalgewicht zumindest bis auf einen BMI von 30 anzuheben. „Die Daten legen das nahe“, ist Stefan Anker, Herzspezialist an der Charité, in Berlin überzeugt.
Doch der BMI als Risiko-Index ist selber in Verruf geraten. Er sagt ja nichts darüber aus, ob jemand viel Gewicht auf die Waage bringt, weil er dicke Hüften, einen Bierbauch oder vielleicht einfach gut trainierte Muskeln hat. Aber nur das Bauchfett, das der Fachmann als intra-abdominales Fett bezeichnet, gilt als Risikofaktor für diverse Morbiditäten. Nur die dort ansässigen Fettzellen produzieren Botenstoffe, die eine Insulinresistenz sowie Entzündungen auslösen und damit zu den gefürchteten Gefäßveränderungen führen können.
„Fett auf den Hüften ist für das Krankheitsrisiko beispielsweise nicht relevant“, so Hans-Georg Joost, Direktor des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam.
Weil die Fettverteilung stark vom Geschlechtshormon Östrogen abhängt, trägt eine Diät gerade bei Frauen meist wenig zur Gesundheit bei. Trotzdem wurde und wird der BMI von Wissenschaftlern weltweit weiterhin in großen Studien verwendet. „Das ist ein Unglück“, so Joost.
Der Taillenumfang oder die „waist-to-height-ratio“ seien wesentlich bessere Messinstrumente. Empfohlen wird: Frauen sollten um die Taille nicht mehr als 88 cm, Männer nicht mehr als 102 cm messen. Aussagekräftige Studien zum Zusammenhang von Bauchumfang und erhöhten Sterblichkeitsraten fehlen jedoch bislang.
Ein zweites Problem: Auf dem Reißbrett klingt alles plausibel. So soll Übergewicht über die Insulinresistenz zu einem Übermaß an LDL-Cholesterin im Blut, zu Bluthochdruck und zum Diabetes beitragen – all dies sind Risikofaktoren für einen Herzinfarkt. Doch ob sich dieses Szenario in der Realität zwingend so abspielt, ist schwer zu belegen. Viele dünne Menschen rauchen etwa. Erhöhtes LDL-Cholesterin, Rauchen oder Single-Dasein ist jedoch viel gefährlicher als Fettpölsterchen. Cholesterin lässt sich bei vielen Menschen mit einer Diät gar nicht senken, diese leiden an einer familiären Hypercholesterinämie. Immerhin einer von 500 Menschen ist davon betroffen. „Hier bestimmen die Gene, wie viel Fett im Blut schwimmt und wie hoch das individuelle Herzinfarktrisiko ist“, so Georg Joost. „Raucher und kranke Personen muss man aus solchen Studien ausschließen“, fordert darum Alfred Wirth, Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie.
Auch Interventionsstudien, die als Standard in der Epidemiologie gelten, helfen in der Frage „Macht dick krank?“ nicht viel weiter. Hierbei setzt man Menschen auf Diät und beobachtet, ob und wie sich dies auf die Gesundheit auswirkt. Der Vorteil: Fachleute ermitteln Gewicht und Lebensstil, der Proband muss nicht in seinem Gedächtnis kramen, wie viel er vor 30 Jahren gewogen hat.
Der Nachteil: Wer dick ist, bleibt dick. Die Rückfallrate von Diäten wird auf 95 Prozent geschätzt. „Freiwilliges Abnehmen funktioniert langfristig nur sehr selten“, so Joost. Menschen nehmen zwar am Anfang einer Diät gut ab, haben aber nach einigen Jahren ihre Pfunde oder sogar mehr wieder drauf – das liegt nicht nur an mangelndem Willen, sondern auch oft an einem trägen Stoffwechsel, der durch eine dickmachende Umwelt noch verschärft wird.
Gerade dieser Jo-Jo-Effekt, auch Weight Cycling genannt, richtet aber besonders üblen Schaden an: Gallensteine, Herzbeschwerden, Gebärmutterkrebs – erste Studien lassen nichts Gutes ahnen. Zudem ist die Psyche vor allem von weiblichen Jo-Jo-Diätern besonders brüchig. In einer aktuellen Harvard-Studie traten Depressionen, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch vor allem bei Menschen mit schwankendem Gewicht auf, nicht jedoch bei bloßer Gewichtszunahme.
Überschüssige Pfunde könnten bei schweren Krankheiten oder im Alter sogar eine Art Lebensversicherung darstellen. Menschen, die an Herzinsuffizienz, Rheuma, Aids oder Krebs leiden, haben eine erhebliche bessere Prognose, wenn sie ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen haben, sogar wenn sie deutlich übergewichtig sind. Mit einer Erklärung für dieses so genannte „obesity paradox“ tut man sich jedoch schwer. Schließlich ist kaum auszuschließen, dass die Patienten wegen ihrer schweren Krankheit, die durch eine fortschreitende Zermürbung des Körpers gekennzeichnet ist, abgenommen haben. Trotzdem empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin: „Menschen ab 65 Jahren sollten sich Murmeltierpolster zulegen.“
Einig ist man sich auch: Menschen, die bereits in jungen Jahren zu viele Pfunde mit sich herumschleppen, sind besonders gefährdet. Für die Praxis ist diese Erkenntnis jedoch von geringer Bedeutung. Schließlich werden die Kinder durch die Moppel-Debatte stigmatisiert und ins Cycling oder in die Magersucht getrieben.
Übrigens sind umgekehrt dünne Menschen keineswegs gegen die besagten Volksleiden gefeit, das belegt aktuell die Frankfurter Berufsschulstudie. Insulinresistenz kommt demnach nicht nur bei übergewichtigen Jugendlichen vor, sondern besonders bei schlanken, bewegungsarmen Raucherinnen. Der einzige Garant für ein langes Leben scheint daher eine – freiwillige – Mitgliedschaft in Sportverein oder Fitnessstudio zu sein.