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Archiv-Artikel

„Super, wenn sie losgelassen“

In den 68er Jahren war Gisela Erler studentenbewegt und fand parlamentarische Demokratie weniger sexy als die Weltrevolution. Heute sagt die Tochter des SPD-Politikers Fritz Erler selbstkritisch: Wir sind als junge Menschen fahrlässig mit der Demokratie umgegangen, die unsere Eltern als höchstes Gut errungen haben. Ein Gipfelgespräch mit der grünen Staatsrätin für Bürgerbeteiligung zwischen den Höhen der Villa Reitzenstein und den Niederungen des Schillerplatzes. Über Bahnhöfe im Stresstest, Debattenkultur im Landtag, schwäbische Dichterfürsten und – wehe, wenn sie losgelassen – die Bürger

Gisela Erler (65) hat Germanistik und Soziologie studiert, sie engagierte sich im SDS, war 1967 Mitgründerin des Münchener Trikont-Verlags, machte sich einen Namen als Familienforscherin und ist seit Mai Mitglied der baden-württembergischen Landesregierung. Für die Staatsrätin für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft, die ihren Lebensmittelpunkt noch in Berlin hat, war der Weg von der Villa Reitzenstein hinunter in die Stadt beim Interview so auch eine Art Kennenlernkurs Stuttgart. Demnächst wird Gisela Erler mit ihrem Mann Warnfried Dettling auf die Höri am Bodensee umziehen Fotos: Martin Storz

Interview von Rainer Nübel und Susanne Stiefel

?Frau Erler, wir wollen mit Ihnen, der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, hinunter zu den Bürgern gehen. Noch stehen wir hier an den Pforten des Staatsministeriums, der Villa Reitzenstein, wo Sie Ihr Büro haben. Hat Ihr Mann, Warnfried Dettling, Sie schon gewarnt vor der Kälte der Macht hier oben im Staatsministerium?

Als mein Mann Anfang der 90er-Jahre hier für die CDU in der Grundsatzabteilung saß, stimmte das mit der Kälte der Macht vielleicht noch. Es waren andere Zeiten, andere politische Konstellationen, und Themen wie Bürgerbeteiligung, die er damals auch schon vertreten hat, aber auch moderne Familienpolitik waren damals keine gefragten Güter. Ein Nachbarschafts- oder Mütterzentrum als Förderobjekt? Das wurde kühl weggelächelt. Heute geht es hier oben nicht um die Kälte, sondern eher um das Erlernen des Umgangs mit der Macht, die die grün-rote Regierung sehr volksnah definiert.

Wer Manfred Zachs Schlüsselroman gelesen hat, weiß, dass hier oben der Ort war, wo man Luftballons hat steigen lassen, wo aber auch der Sturz eines Ministerpräsidenten vorbereitet wurde.

(lacht) So weit sind wir noch lange nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich hier oben im Machtbunker sitze. Steigen wir also auf den Sünderstaffeln hinunter in die Stadt.

Dieser Abstieg ähnelt in gewisser Weise Ihrer Aufgabe: Wir wissen nicht genau, wo wir unten rauskommen.

Sehr symbolhaft. Wir brauchen in der Tat Ergebnisoffenheit, wenn wir in Kommunen und anderswo mit Bürgerinnen und Bürgern sprechen.

Wenn wir schon bei der Symbolik sind: Wäre es nicht sinnvoll, dass Sie nicht nur runtergehen, sondern dass die Bürger Ihnen entgegenkommen?

Idealtypisch gäbe es überhaupt kein Oben und Unten. Idealtypisch wäre, dass Bürger und Politiker sich auf gleicher Höhe bewegen und gemeinsam gestalten. Sich von oben auf das Volk zubewegen, das empfinde ich sowohl biografisch als auch von meinem Amt her als falsch. Lange Zeit dachte man, dass Experten kluge Entscheidungen zustande bringen. Heute stellt sich eher die Frage: Wie bäckt man aus vielen guten Ideen eine Entscheidung? Ich bin sehr für Mitbestimmung, aber es muss auch irgendwann ein Knopf gemacht werden. Das war ja eine Schwäche der Basisdemokratie, dass keine Form gefunden wurde, Entscheidungen zu treffen.

Sie sagten, auch biografisch gäbe es kein Oben und Unten. Wie nehmen Sie als gebürtige Biberacherin Stuttgart wahr?

In meiner Jugend habe ich Baden-Württemberg verlassen, weil ich so schnell wie möglich rauswollte aus Kehrwoche und alldem, was ich als Spießertum und Enge empfunden habe. In meiner jugendlichen Aufmüpfigkeit war mir das alles zu provinziell. Heute erschließe ich mir Stuttgart fern dieser Klischees und sehe die Landeshauptstadt als eine sehr gemischte Stadt mit einer sehr interessanten Kultur.

Sie haben einen berühmten Vater, den SPD-Politiker Fritz Erler. Sind Sie auch vor der Bürde der Prominenz geflohen?

Ich hatte ein sehr liberales Elternhaus. Aber ich wollte normal leben, das spielte für mich als Prominententochter eine Rolle. Ich bin sehr dankbar für diese Biografie, auch wenn ich nicht die Politik meiner Eltern fortgesetzt habe. Mir geht es weniger um die repräsentative und mehr um die direkte Demokratie. Das bringe ich mit aus der Studentenbewegung.

Hat Sie die oberschwäbische Herkunft geprägt?

Ich bin vor allem ein deutsches Nachkriegs-Nomadenkind. Meine Eltern waren Berliner, mein Vater ist in Biberach als politischer Gefangener aus dem Zug gesprungen. Er wurde halb verhungert von einem Bauern aufgelesen und durchgefüttert, bis die Franzosen kamen. Und dann war er weit und breit der einzige Französisch sprechende Verwaltungsbeamte mit einer antifaschistischen Vergangenheit.

Wie prägte Sie die Geschichte Ihres Vaters? Also diese Konfrontation mit Diktatur und Aufbau einer Demokratie?

Als Mitglied und Teil der Studentenbewegung bin ich, wie wir alle, ungeheuer naiv und fahrlässig mit der Demokratie umgegangen. Also mit dem, was unsere Eltern als höchstes Gut errungen hatten. Wir haben damals gesagt: Repräsentative Demokratie – weg damit! Wir wollten die Räte und haben alle diese alten Schmöker aus der Russischen Revolution und sämtliche Rätekonstruktionen der Pariser Kommune studiert. Erst später, mit dem politischen Erwachsenwerden, wurde mir bewusst, was jetzt wieder mein Thema ist: dass es in modernen, komplexen Gesellschaften Sinn hat, mehr direkte Demokratie zu haben. Aber dass man dabei die parlamentarischen und repräsentativen Instrumente nicht schwächen darf.

Ist das, was wir heute mit Stuttgart 21 erleben, eine Spiegelung dessen, was Sie eben beschrieben haben?

Manchmal denke ich, die Leute, die gegen S 21 auf die Straße gehen, sind die aus meiner Generation, die damals nicht protestiert haben. Die holen jetzt nach, was damals an Aufmüpfigkeit geboren wurde. Aber darauf will ich den Protest nicht reduzieren. Menschen fühlen sich entfremdet, wenn große Veränderungen wie Migration, deutsche Vereinigung oder Investitionsstau verarbeitet werden sollen, ohne dass genügend Kanäle da sind, in die einfließen kann, was die Menschen brauchen oder wollen. Die Entfremdung in den 60er Jahren war ja auch so ein Phantomleiden. Damals war jedoch nicht die lokale Geschichte wichtig, sondern die Dritte Welt. Der Vietnamkrieg, die Kolonialregierungen in Afrika, dadurch sind wir aufgewacht und waren ganz banal schockiert. Das ist heute anders. Bei Stuttgart 21 geht es um Betroffenheitswiderstand, um den Erhalt von als kostbar empfundenen Strukturen.

Bei S 21 geht es nicht nur um den Erhalt eines Bahnhofs, sondern um demokratische Mitbestimmung und aktive Mitgestaltung eines städtischen Umfelds.

Wir Studenten haben uns damals nicht mit Planung aufgehalten, das war uns völlig wurst. Es ging um die Weltrevolution. Hier und heute geht es um Mitwirkung. Das Alltagsleben und die konkrete Lebensgestaltung werden wichtig. Also Bahnhöfe etwa, Energie- und Wasserversorgung. Das hat natürlich auch mit Politik zu tun, aber der Ausgangspunkt ist jetzt ein anderer. Menschen, die heute 30, 40, 50 Jahre alt sind, tendieren mehr dazu, sich mit dem wirklichen Leben zu befassen als die, die mit 20 Jahren mal grade anfangen, philosophisch grundsätzlich die Welt neu zu entdecken. Winfried Kretschmann sagt, wir sind in einer neuen Gründerzeit. Wir Grünen sind jetzt Träger einer Regierung, die mit der Energiewende auch verantwortlich ist für große Eingriffe in die Natur. Und das ist eine neue Rolle für die Grünen. Ich glaube, das haben viele noch nicht verstanden.

Was erwartet die Staatsrätin für Bürgerbeteiligung von der Schlichtung?

Na ja, der Stresstest ist bestanden. Gleichzeitig wird immer klarer, dass es versäumt wurde, die Parameter eines guten Bahnhofs vorher zu diskutieren. Das war ein Loch in der Schlichtung von Heiner Geißler. Viele werden wohl weiter sagen, dass der Bahnhof erhebliche qualitative Mängel aufweist. Ob es deshalb zur Akzeptanz des Ergebnisses kommt oder zu einer großen Mobilisierung oder ob manche auf den Volksentscheid warten, das wird sich in den nächsten Wochen entscheiden.

Wenn das Aktionsbündnis nicht zurückgekehrt wäre an den Schlichtungstisch, wäre dann das Demokratieexperiment gescheitert?

Um Gottes willen, nein! Viele haben viel gelernt bei dieser Schlichtung. Ziel einer solchen Aktion ist Partizipation, aber auch Befriedung und Respekt voreinander. Die Argumente der Gegner sind sehr vielen Leuten nach der Schlichtung besser bewusst gewesen. Ich halte es für ein gutes Ergebnis dieser Bürgerbeteiligung, dass ein reflektierterer Diskussionszusammenhang entstanden ist. Ich halte es auch für einen hohen Wert, wenn man die Qualität und die Aufgeklärtheit der Debatte anschaut. Kritisch zu sehen ist, dass die Schlichtung zu spät kam. Wir brauchen andere Verfahren, bei denen so etwas früher stattfindet. Man hätte definieren müssen: Was ist ein guter Bahnhof? Was wird eigentlich eingegeben in diese Simulationen? Das ist eine große Schwäche der Präsentation am kommenden Freitag.

Wir gehen gerade durch die Uhlandstraße. Frau Erler, was hätte denn Ludwig Uhland, Dichter, Jurist und im Revolutionsjahr 1848 Politiker der Frankfurter Paulskirche, zur Schlichtung gesagt?

Ich weiß von Ludwig Uhland nur eine Zeile: „Sah man zur Rechten wie zur Linken einen halben Türken herniedersinken.“ Wahrscheinlich wäre er aufseiten der Wutbürger. Ich kann es Ihnen aber nicht sagen.

Sie sollen alle Ministerien in Ihre Arbeit einbeziehen. Was sind für Sie die Kernthemen?

Wir bekommen aus jedem Haus eine Aufstellung von Vorhaben und Projekten, die mit Bürgerbeteiligung zu tun haben. Und das ist faszinierend wie in einem Kriminalroman. Da kommt etwa vom Innenministerium eine lange Liste mit Projekten wie das Portal Service Baden-Württemberg. Oder die Frage aus dem Justizministerium: Was passiert, wenn Gefängnisse gebaut werden sollen? Wie werden Bürgerverfahren eingeführt? Dann das Riesenthema Agrarwirtschaft: Wie bekommen wir eine gute Bürgerbeteiligung rund um das Thema Nationalpark Nordschwarzwald? Dabei werde ich nicht jedes einzelne Projekt behandeln, es geht um einen Leitfaden. Nach dem Motto: Wie werden Verwaltungen in die Lage versetzt, in der Planung auch immer frühzeitig die Bürger einzubinden? Das ist vor allem eine Kulturveränderung. Da müssen auch Beamte darin unterstützt werden, dass sie ihre Angst vor den Bürgern verlieren. Wir müssen die Weisheit von Gruppen vor Ort nutzen. Es kommen dadurch schönere, auch ästhetisch überzeugendere, vielleicht billigere und insgesamt klügere Lösungen heraus.

Aber mal ehrlich, Frau Erler: Muss der Beamte, der sich der Bürgerbeteiligung verschrieben hat, nicht erst geboren werden?

Die meisten Beamten sind klug und denken fürs Gemeinwesen. Es ist eine hohe Bereitschaft da, grüner zu werden, mehr mitzureden. Natürlich bin ich nicht naiv und weiß, dass es nach fast 60 Jahren CDU-Herrschaft in Hinterzimmern noch Seilschaften gibt, die Dinge ausbremsen wollen. Aber im Grunde ist die Kooperationsbereitschaft hoch, auch die Unterstützung für mein Amt. Man kann das als Opportunismus sehen, man kann aber auch sagen, das sind die Tugenden des deutschen Beamtenwesens. Die Prämisse lautet doch: Wir wollen alles ein bisschen grüner machen, aber wir wollen dabei unseren Reichtum nicht verlieren. Daimler-Chef Zetsche hat vor wenigen Tagen zu Winfried Kretschmann gesagt: „Wir werden Autos bauen, die sind so grün, dass die anderen gelb vor Neid werden.“ Das halte ich für eine gute Basis.

Ansonsten sind Sie ja als durchaus streitbar bekannt. Für Frauen haben Sie gegen alle Widerstände immer wieder gekämpft.

Ich bin zwar nicht Staatsrätin für Gleichstellung, aber wer mich holt, weiß, dass ich das Thema Frauen immer mitdenke. Ich war schockiert am Tag meiner Vereidigung, als ich runter in den Landtag geschaut habe. Da unten sitzen ja kaum Frauen! Später habe ich erfahren, dass nur 18 Prozent weibliche Abgeordnete im Stuttgarter Landtag sitzen. Daran sind Diskussions- und Debattenstile nicht ganz unschuldig. Die sind für sehr viele und sehr kluge Frauen kein Anreiz, sich da hineinzubegeben. Da gibt es noch einiges zu tun. Als Gebäude finde ich den Landtag im Übrigen sehr schön. Ich grüble jetzt allerdings grundsätzlich über Hochsitze im Parlament und die konfrontative Sitzordnung in Fraktionen. Vielleicht sollte man die Leute durcheinander setzen, damit sie auch miteinander reden und über Parteigrenzen miteinander ins Gespräch kommen. Das Thema „Bürgerbeteiligung und Parlament“ möchte ich irgendwann auf die Speisekarte meines Amtes setzen.

Da müssen Sie noch Mediatoren für den Landtag ausbilden.

Dieser Landtag verhält sich manchmal wie eine Schulklasse, wo die Schüler, vorwiegend Jungs, seit Jahrzehnten zusammensitzen und sich auf die Schenkel klopfen. Ich bin ja ein altes Schlachtross. Aber für Menschen, die eher schüchtern sind, ist diese Debattenkultur nicht wirklich einladend.

Inzwischen sind wir am Schillerplatz angekommen. Welche Rolle spielt denn der Bürgerdichter Schiller für die Germanistin Erler?

Ich war Spezialistin für gotische und mittelhochdeutsche Grammatik. Ich liebe Grammatik, obwohl ich oft sehr unsystematisch wirke. Ein bisschen war das auch Rettung vom Irrwitz unserer Studentenbewegung: In der Grammatik herrschte Klarheit und eine deutliche Aufgabenstellung.

Bleiben wir bei Schiller. Sein bürgerliches Trauerspiel „Kabale und Liebe“ thematisiert den Dualismus von Verstand und Emotion. Wenn Sie die Erfahrungen mit der grün-roten Koalition Revue passieren lassen: Ist das eher Kabale oder Liebe?

Keins von beiden, keine echte Kabale und auch keine echte Liebe. Die Regierungserklärung war im Grunde mehr als ein Formelkompromiss. Es gibt inhaltliche Brücken, weil das Thema gute Arbeit in Baden-Württemberg eher im Zentrum steht als das Thema Umverteilung. Wenn es um Umverteilung primär geht, ist es viel schwerer für Grüne, mit der SPD zu regieren.

Lassen wir hier am Schillerplatz zum Schluss noch den alten Dichter zu Wort kommen mit seinem an Zitaten reichen Werk. Wir zitieren, Sie ergänzen, was Ihnen spontan dazu einfällt. Bereit?

Ja. Legen Sie los.

Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Da hat Schiller recht, und das sehen wir auch an der sich ständig zuspitzenden Kultur des Nachbarschaftsstreits. Und ja, es trifft auch auf die grün-rote Koalition zu. Ich denke aber auch an Europa und an unsere Nachbarn in der Dritten Welt.

Und noch mal Schiller: Drum prüfe, wer sich ewig bindet.

Es bindet sich ja heute niemand mehr ewig, egal ob Sie sich Lebensabschnittspartnerschaften anschauen oder Koalitionen. Auch mit dem Arbeitgeber dauert eine Partnerschaft anders als früher selten lebenslang. „Ewig“ ist keine Kategorie mehr für Bindungen. Man prüfe immer, was die Grundlagen sind: Liebe, Macht, gemeinsame Interessen.

Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.

Wohl eher und mir viel lieber: Der Zimmermann erspart die Axt im Haus.

Wehe, wenn sie losgelassen!

Da komme ich zu sehr aus der Spontibewegung, um dieses Schiller-Zitat zu unterschreiben. Eine lebendige Demokratie profitiert davon, dass die Leute auch zusammen rausgehen, gemeinsam schimpfen und Dinge zuspitzen. Ohne Leute, die sich ein bisschen leidenschaftlicher engagieren, kann man keine gute Gesellschaft bauen. Nein, ich sage: Super, wenn sie losgelassen.