„Lampenfieber vor der leeren Leinwand“

HAUSBESUCH Neunzig ist sie, die Künstlerin. Doch das Malen ist noch immer ein Abenteuer. Bei Rita Preuss in Berlin

VON WALTRAUD SCHWAB
(TEXT) UND AMÉLIE LOSIER (FOTOS)

Charlottenburg – nobles Westberlin: Zu Hause bei Rita Preuss (90).

Draußen: Sie wohnt an der vielbefahrenen Kantstraße. Links ist der Savignyplatz, rechts der Bahnhof Zoo. Eine mondäne Ecke ist es. Die Dinge in den Schaufenstern sind edel.

Drin: Rita Preuss lebt in der Beletage im ersten Stock eines Altbaus, 200 Quadratmeter – heute sind in solch repräsentativen Räumen mit Stuckdecken, zweiflügeligen Türen, mit gusseisernen Geländern und Nebenaufgang, mit Intarsienmöbeln und Gemälden an den Wänden meist Kanzleien, Arztpraxen, Pensionen. Lebt doch jemand in der Beletage, scheint Geld keine Rolle zu spielen. Auf Rita Preuss trifft das so nicht zu. Die Möbel sind geerbt, die Bilder an den Wänden von ihr selbst, und die halbe Wohnung ist sowieso Atelier. Ihr Mietvertrag ist alt, von 1946. Das macht ihre Miete erträglich. Den Vermieter wird’s wurmen. Die Künstlerin zittert vor jeder Mieterhöhung. „In meinem Alter ein Umzug, das verkrafte ich nicht.“

Was macht sie: Sie lebt. Sie malt. Sie lebt, wenn sie malt. Sie will weitermalen. „Im Allgemeinen werden Künstler alt, wenn sie nicht saufen.“ Sie wurde neunzig am 31. Oktober. Eine Riesenausstellung im Willy-Brandt-Haus in Berlin ist das Geburtstagsgeschenk. Obwohl ihre Gesundheit nicht mehr gut ist, hält sie sich mit Malen aufrecht. (Im letzten Jahr war sie umgefallen und kam nicht mehr hoch. Beckenfraktur. „Ich fiel zusammen wie ein Sommertheater.“) Jetzt fällt ihr das Stehen schwer, „ich kann aber nur stehend malen“. Von großen Formaten mag sie trotzdem nicht lassen. Manchmal, wenn sie unten am Rand malt, da müsse sie sich doch setzen. Oder sie drehe, erzählt sie, die Bilder um und malt seitenverkehrt und auf dem Kopf. „Man kommt schon auf seltsame Lösungen.“

Rita Preuss: Sie ist 1924 nicht weit von da, wo sie jetzt wohnt, auch geboren. Es hätte alles so schön, so anregend, so avantgarde sein können im wilden Berlin. Dann kamen die Nazis – und mit den Nazis Dummheit, Gewalt, Bomben, Unrechtsstaat, Arbeitsdienst, Überlebenskampf. „Ich hatte keine Zeit, Primadonna zu sein.“ Was sie nie vergisst: wie ihrem Vater, der zum Volkssturm eingezogen wurde, kurz vor Ende des Krieges der halbe Magen weggeschossen wurde von einer Stalinorgel – „er hat gebrüllt wie ein Tier.“ Sie hat ihn mit bloßen Händen im Vorgarten eingebuddelt, und, „das war das Schlimmste“, musste ihn bald danach wieder ausgraben wegen Seuchengefahr.

Der Weg: Noch während des Krieges machte sie eine Lehre zur Schlosserin bei Siemens und zur technischen Zeichnerin. Da wurde ihr künstlerisches Talent erkannt. Weil nach dem Krieg alles Aufbruch war, konnte sie ab 1946 an der neu eröffneten Kunsthochschule studieren. Alles war improvisiert. Gefroren und gehungert hätten sie. „Ich habe Klimmzüge an der Tischkante gemacht.“

Künstlerin sein: Entweder Sie werden Lehrerin oder Sie gehen in die angewandte Kunst, riet man Künstlerinnen nach dem Studium damals. Denn, so der Professor: „Nach dem ersten Liebesschrei ist es mit der Kunst vorbei.“ Die Schule, sagten die Herren der Schöpfung noch, würde den künstlerischen Elan bei den Frauen töten. Preuss wollte das nicht. Sie bewarb sich um Kunst-am-Bau-Aufträge. Fast vierzig Fassaden von öffentlichen Gebäuden hat sie zwischen 1955 und 1993 mit riesigen Mosaiken belegt. Welterklärungen, Weltuntergänge, Weltläufe. Das größte Werk, die „Schöpfung der Welt“, am Berliner Kant-Gymnasium, hat 56 Quadratmeter. „Aber angewandte Kunst wird in Deutschland nicht gewürdigt.

Auf und ab: Ihr Leben sei kunterbunt. „Wenn was schön ist, krieg ich gleich aus einer anderen Ecke eins auf den Deckel.“

Nature morte: Neben den Wandgestaltungen hat sie immer auch gemalt. Nicht im Elfenbeinturm – Umweltzerstörung, Jugendkultur, Alter, Migration kommen in ihren Bildern vor. Anfang der neunziger Jahre wird ihr Mann krank, sie pflegt ihn bis zum Tod 1996, malt sein Vergehen und ihre eigene Qual. „Mein Mann fehlt mir immer noch.“ Sie sieht, wie sich alles wandelt, und nun fehle der Mensch, mit dem sie das besprechen kann. Die Welt, sagt sie, sei aus den Fugen. „Ich habe Angst, dass wieder ein Krieg kommt. Weil wir, die den Krieg erlebt haben, mehr und mehr sterben, ist der Widerstand gegen Krieg nicht mehr so stark.“

Die leere Leinwand: Rita Preuss hat ihr ganzes Leben als Künstlerin gearbeitet. „Hätte es geklappt, dass ich Kinder bekomme, wer weiß, ob ich so produktiv gewesen wäre.“ Trotzdem ist nichts Routine. „Wissen Sie, ich habe immer noch Lampenfieber vor der leeren Leinwand.“ Dann, meint sie, mache sie alles Mögliche, um nicht anzufangen: Knöpfe annähen, Wäsche waschen, Papiere sortieren. Irgendwann fängt sie doch an – „mit dem Mut der Verzweiflung“.

Durchbruch: Im Jahr 2000 erhält sie den Hannah-Höch-Preis. Sie war 76 Jahre. „Bei mir kam der Erfolg eigentlich erst damit.“ Der Preis gibt ihr Auftrieb. Jetzt will sie es wissen.

Preußinnen: Vielleicht hängt es mit ihrem Namen zusammen, dass sie sich um die Jahrtausendwende der Prinzessin Viktoria von Preußen zuwandte und Orte, die mit ihr zu tun hatten, Schloss Sanssouci in Potsdam, Schloss Babelsberg, Schloss Charlottenburg, in großen Bildern festhielt. „Der Einstieg ins Alterswerk“ sei das. Einstieg wohlgemerkt, denn Rita Preuss, dieses Preußin, die sich „Nichtstun nicht durchgehen lässt“, die jeden Tag weitermalt, weiß, was nach Potsdam kommt: Berlin. Wieder sind riesige Bilder entstanden. Die Gedächtniskirche, die Oberbaumbrücke, der Botanische Garten, die Hackeschen Höfe, der Savignyplatz. „Berlin ist meine Mitte“ nennt sie den Zyklus. Pünktlich zum Neunzigsten ist er fertig geworden. Das Besondere: Sie nähert sich in den Bildern der Abstraktion.

Wehmut: Zur Ausstellungseröffnung wurde sie vor laufender Kamera gefragt, wie es ihr geht. Sie hat die Aufregung und die Ehrung angesprochen. Aber auch die Wehmut. „Noch so eine Ausstellung werde ich wohl nicht mehr haben.“ Gefragt, ob man mit 90 an den Abschied denkt, sagt sie: „Mein letztes Bild war der Savignyplatz. War das ein Abschied?“ Dann sei sie rausgegangen und sah, dass auf dem Spielplatz am Savignyplatz nur Männer mit Kindern waren. Etwas hatte sich in der Gesellschaft also geändert. Ein Projekt geht noch, dachte sie. „Männern mit Kindern“ heißt es.

Zu Besuch: Sie wollen auch besucht werden? Schicken Sie eine Mail an hausbesuch@taz.de

Die Ausstellung: „Berlin ist meine Mitte“ – Bilder von Rita Preuss. Bis zum 25. Januar im Willy-Brandt-Haus in Berlin