Versuchsanordnung des Schicksals

SALZBURGER FESTSPIELE Kaum ein deutscher Dramatiker wird so viel gespielt wie Roland Schimmelpfennig. In Salzburg inszenierte er selbst die Uraufführung von „Die vier Himmelsrichtungen“

Das erlesene Schauspielerquartett geht mit Schimmelpfennigs wie auf Millimeterpapier entworfenem Text so selbstverständlich um, als sei’s ein Kinderspiel

Zwei Frauen und zwei Männer, das ist eine klassische erotische Versuchsanordnung. Doch in Roland Schimmelpfennigs neuem Stück wird der Eros wenig handfest verhandelt, vielmehr mythisch überhöht. Denn es geht um Zufall, Schicksal und um die lähmende und zuletzt taumelnde Wiederkehr des Gleichen. Die vier Personen sind bis auf „eine Frau“, die sich „Madame Oiseau“ nennt – ihr Künstlername als Wahrsagerin – namenlos. „Ein Mann“ (Ulrich Matthes), „eine junge Frau“ (Kathleen Morgeneyer), „ein kräftiger Mann“ (Andreas Döhler) und „eine Frau“ (Almut Zilcher) treibt es aus den vier Himmelsrichtungen zusammen, sie bringen Nebel, Regen, Wind und Schnee mit.

Auf der Bühne des Salzburger Landestheaters, die Johannes Schütz für die Uraufführung eingerichtet hat, schluckt brauner Torf jedes Schrittgeräusch und lastet schwer auf dem Boden. Er dampft und schwitzt beständig Nebel aus, ein Podest steht in der Mitte, im Hintergrund eine vergessene Baggerschaufel vor einem aufscheinenden und wieder verlöschenden Sternenhimmel. Eine aufgegebene Baustelle? Oder eine archaische Urlandschaft?

Die Geschichte ist von der unbegreiflichen Schlichtheit einer alten Fabel: Der kräftige Mann verunglückt aufgrund überhöhter Geschwindigkeit mit seinem Lkw, lässt seine verlorene Ladung aus 400 Kartons mit Modellierballons einfach in einer Senke liegen, kauft sich eine Waffe und wird fortan kriminell. Der Mann findet die Ballons, trägt sie nach Hause und wird spontan Kleinkünstler. Beide verlieben sich in die junge Frau, deren üppige Lockenpracht an die Schlangenhaare der Medusa gemahnt. Die Frau prophezeit einen Todesfall, es kommt zum Eifersuchtskampf, mit Nasenbeinbruch und Todesfolgen.

Eine Schnur ist straff wie eine Saite über das Podest gespannt. Hin und wieder wird sie gezupft, ihre wahre Funktion enthüllt sie aber erst, als der „kräftige Mann“ mit Schwung im Hochwasseranzug aufs Podest springt und an der Schnur einen unsichtbaren Vorhang auf- und zuzieht: Sogar die Brecht-Gardine ist nur noch imaginär in Roland Schimmelpfennigs enorm kunstvollem, anspielungsreichem Stück, das in seiner eigenen Regie in Salzburg vor prominentem Publikum (Angela Merkel in der Königsloge) zur umjubelten Uraufführung kam.

Monologe und Spiegelungen

Lange war Jürgen Gosch der Regisseur, der Roland Schimmelpfennig auf seinem Weg zu einem der meistgespielten deutschen Dramatiker begleitete. Seit Goschs Tod ist Schimmelpfennig am liebsten sein eigener Regisseur. Sein neues Stück ist ein verschachteltes, vielfach an sich selbst gespiegeltes und in leitmotivisch verarbeiteten, variierenden Wiederholungen kreisendes Textgebilde, das in 52 kurzen Szenen überwiegend mit Monologen in indirekter Rede arbeitet. Das schafft Distanz zum Geschehen, das aus verschiedenen Perspektiven wieder und wieder erzählt wird. Abwechselnd und manchmal gleichzeitig treten die Figuren aufs Podest, mal verdichten sie sich auch zum anschwellenden Chor, meist aber bleiben sie monologisierend allein.

Schimmelpfennigs Text verwirrt zunächst, verdichtet sich dann langsam und mit großem Sog zu einer Art höheren Klarheit. Das erlesene Schauspielerquartett, das die Inszenierung in der kommenden Spielzeit im Deutschen Theater Berlin weiterspielt, geht mit Schimmelpfennigs wie auf Millimeterpapier entworfenem Text so selbstverständlich um, als sei’s ein Kinderspiel. Ein Wunder differenzierter Schauspielkunst, wie das glänzend aufeinander eingespielte Ensemble virtuos die Textebenen wechselt, mit direkter und indirekter Rede spielt, hier die Künstlichkeit ausstellt und zwei Sätze später ins Reale durchbricht.

Zerbrechliche Poesie

Von zerbrechlich leuchtender Poesie Ulrich Matthes’ Mann im Sternenkostüm mit blauer Zunge, von scheu zitternder Intensität und trotzig aufbegehrender Lebensgier Kathleen Morgeneyers Frau mit den Medusenhaaren – tatsächlich versucht sie verzweifelt, sich die dünnen Strähnchen aufzutoupieren –, voll vitaler Selbstironie Andreas Döhlers kräftiger Mann, und geheimnisvoll Almut Zilchers in jeder Hinsicht dunkle Wahrsagerin.

So möchte man sich am Schluss gar nicht mehr trennen von der Geschichte, die man längst kennt, deren Text aber immer mehr zu tanzen scheint.

REGINE MÜLLER