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Archiv-Artikel

Reden wir über den Schnee

LITERATUR Als diese Schriftstellerreise beschlossen wurde, ahnte noch niemand etwas von der Krise in der Ukraine. Vier deutschsprachige Autoren auf Kulturaustausch in Sibirien

Das Bedürfnis nach Patriotismus ist hier zu spüren. Ein Freund sagt: Es ist ein Patriotismus zum Ersticken

VON NATASCHA FREUNDEL

„Das Wetter ist gut, die Temperatur beträgt minus 27 Grad“, erklärt der Pilot kurz vor der Landung des Flugzeugs im sibirischen Tomsk. Neben mir das ältere Ehepaar aus dem ostukrainischen Luhansk lacht auf: Dieses Eiseskälte werden sie auch überstehen. Hauptsache, raus aus ihrer umkämpften Stadt, und wer weiß, wann sie zurückkehren und in welches Land. In den Luhansker Schulen seien schon russische Lehrbücher verteilt worden. Ob die beiden sich darüber freuen, vielleicht bald zu Russland zu gehören?

Nicht unbedingt. Nur der Beschuss solle endlich aufhören, der zufällige Tod von Kindern und Alten auf der Straße, mehr wünschen sie sich gar nicht mehr, sagen sie bitter lächelnd, bevor sie ihre dicken Mäntel und Mützen überzogen. Im Flughafengebäude von Tomsk sehe ich noch, wie sie von Sohn und Schwiegertochter unter Tränen begrüßt wurden, es sind keine Freudentränen.

Sibirien im November 2014. Eine Reise unter dem Motto „Vielfalt und Experiment“, initiiert von Stefanie Peter vom Goethe-Institut Nowosibirsk und Thorsten Dönges vom Literarischen Colloquium Berlin, mit vier Schriftstellern, die Sibirien, zum Teil auch Russland überhaupt, bisher vor allem aus Büchern kannten: Marcel Beyer aus Dresden, Ann Cotten aus Wien/Berlin, Angelika Meier und Roman Ehrlich aus Berlin.

Als das russische „Jahr der deutschen Sprache und Literatur“, in dessen Rahmen diese Reise stattfand, bilateral beschlossen wurde, da ahnte noch niemand, dass in der Ukraine ein blutiger Krieg ausbrechen würde, der zu einem neuen Kalten Krieg zwischen dem Westen und Russland führen könnte. Nun betraten die Autoren rhetorisch verminten Boden. Nun konnte die begleitende Journalistin nicht anders, als das ukrainische Ehepaar im Flugzeug mit Fragen zu belagern. Nun bekam der so beliebige Titel des Sibirienbesuchs Sinn: Die Reise war ein Experiment der kulturellen Begegnung in kriegerischen Zeiten, und die Eindrücke waren so vielfältig, dass sie unmöglich in einer schlüssigen Erzählung zusammengefasst werden können.

Der erste Eindruck allerdings, als unser Reisegrüppchen, überrumpelt vom fünf Stunden vorausgeeilten Morgen und von einem Milizionär durch eine zugefrorene Automatiktür gelotst, endlich hinaustrat, blieb haften und wurde zur kontinuierlichen Metapher der Reise: Viel Schnee. Weiße Flecken vor dunklem Nachthimmel. Schnee auf der schnurgeraden breiten Straße nach Tomsk, auf den Birken, den Holzhäusern, den Supermärkten, den eher bescheiden sozialistisch-klassizistischen Gebäuden, auf den eigens für diese Witterung gemachten Dächern der Laternen. Wer mit russischen Märchen aufgewachsen ist wie ich, den kann da eine unbestimmte Sehnsucht befallen.

Das Licht in den paar beleuchteten Fenstern wirkte besonders warm. Tomsk erwachte sehr langsam und sehr ruhig. Als sei der sozialistische Traum noch gar nicht vorbei.

Auch der Charakter pädagogischer Veranstaltungen scheint sich hier nicht grundsätzlich verändert zu haben. Man hatte sich sorgfältig vorbereitet auf den Schriftstellerbesuch. Gymnasiasten und Germanistikstudenten waren aufgefordert worden, zu den eigens für dieses Projekt geschriebenen Essays der Autoren Fragen zu formulieren, ihre Lehrer hatten daraus die ihrer Meinung nach besten Fragen ausgewählt und Teilnahmeurkunden zurechtgelegt. In der Tomsker Puschkin-Bibliothek blickten nun Hundert ordentlich gekämmte Jugendliche gespannt auf die Gäste.

In den Essays über „Die deutsche Sprache als Material meiner Kunst“ hatten sie bei dem diesjährigen Robert-Walser-Preis-Träger Roman Ehrlich lesen können, „dass es beim Schreiben nicht auf einen Gleichklang mit dem Selbstgespräch der Wirklichkeit ankommen dürfe, sondern auf Misstrauen, Wachsamkeit, Wahrnehmungsbereitschaft und lebendigen inneren Widerstand“. In dem Text von Angelika Meier war die Rede von einem „sich verselbständigenden Stimmenhörenschreiben“, und die in Iowa geborene Ann Cotten, Adalbert-von-Chamisso-Preis-Trägerin 2014, hatte geschrieben: „Die mir fremde und feindselige Sprache kann ich von hinten, sozusagen, schönficken, durch Dichten.“

Widerstand interessierte die Studenten in Tomsk irgendwie nicht besonders. Ob Schreiben der Familiengründung im Weg stehe, wollten sie wissen. Welche Helden der Weltgeschichte für die Autoren inspirierend seien. Und: „Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Landes?“ Vielleicht verbarg sich ja in dieser Frage ein Bedürfnis, über das aktuelle Weltgeschehen ins Gespräch zu kommen. Die Veranstaltung mit den zwei gut gelaunten, notorisch nickenden Moderatoren blieb unbeschwert wie eine Quizshow. Dann durften die Studenten und Schüler ihre Urkunden abholen, Gruppenfoto, „Cheese!“

Doch warum sollte es auch gleich ums Weltgeschehen gehen? „In unberechenbarem Verhalten liegt meine Arbeitskraft“, las Ann Cotten später aus ihren Gedichten. In ihrem Workshop ließ sie die jungen Teilnehmer die Stühle an den Rand schieben und Minidramen unter besonderer Berücksichtigung von Präpositionen kreieren. Viel Gekicher. Und viel Applaus für diese kurze Einführung in Konkrete Poesie, zumal Cotten auch Jessenin aus dem Stand zitierte, auf Russisch, holprig, aber hingebungsvoll.

Nebenan wurde Angelika Meier in ihrem Workshop gefragt, ob Warlam Schalamow in seinen Schilderungen der sibirischen Lager eine „neue Religion“ gegründet habe. Die Schriftstellerin zögerte nur kurz, bevor sie sich auf das Pathos der Frage einließ und Ja sagte: In Schalamows reinem Beschreiben und Nichtbewerten des Schreckens scheine ein besonderer Humanismus auf. Keine Nachfrage. Die deutschen Gäste konnten sich nie sicher sein, wie viele Details beim Dolmetschen unter den Tisch fielen.

Aus der alten Universitätsstadt Tomsk ging es spätabends in die wenig mehr als Hundert Jahre junge sibirische Metropole Nowosibirsk. Der Kleinbus schlingerte und hüpfte auf der schlechten, schneebedeckten Fernstraße. Vor den beschlagenen Fenstern: weiße Weiten. Das „mythische Sibirien“, wie Angelika Meier es nannte, ein ortloser Ort. Von Moskau angeblich ebenso weit entfernt wie von Gott.

„Weißer Fleck“ ist da ein idealer Name für das gesamtrussische Literaturfestival Nowosibirsk, das in fast zwanzig Jahren nun dank der Initiative des Goethe-Instituts zum ersten Mal auch Autoren aus dem Ausland auf dem Programm hatte. Die mit anderthalb Millionen Einwohnern drittgrößte Stadt Russlands werde zum „Epizentrum großer literarischer Ereignisse“, versprach die Webseite des Festivals. Die Eröffnungsdiskussion war damit vielleicht nicht gemeint, hatte man ihr doch ein Thema gegeben, das sowohl in der russischen Version („Weibliche und männliche Literatur“) wie in der deutschen Übersetzung („Frauen und Männer im Literaturbetrieb“) zur transnationalen Übereinkunft führte, dass es kein Thema sei.

Merkwürdigerweise glaubte die Petersburger Schriftstellerin Jelena Tschischowa trotzdem die großen Klassiker Tolstoi und Dostojewski lautstark gegen Gender-Trouble verteidigen zu müssen. Und der auch hierzulande schon mal als „neuer Stern am russischen Literaturhimmel“ gefeierte Michail Jelisarow nutzte die Gelegenheit, auf die Mechanismen des kapitalistischen Markts zu schimpfen und einen neuen Siegeszug der Moderne nach dem Tod der dekadenten Postmoderne heraufzubeschwören: Der Krieg in der Ukraine beweise, dass wieder ein Zeitalter der echten Fragen bevorstehe; es müsse nur noch ein echter russischer Führer her. Putin, der nie richtig durchgreife, sei viel zu schwach.

„Ja“, bestätigte Swetlana Tarasowa, die Direktorin der Gebietsbibliothek Nowosibirsk und Organisatorin des Festivals, meinen Eindruck: „Nach Jahren der nach Westen und Osten gerichteten, weit aufgerissenen Augen besinnen wir uns endlich auf uns selbst, auf unsere Geschichte, unsere Werte.“ Das Bedürfnis nach Patriotismus und Heimat sei in Sibirien deutlich zu spüren, erklärt sie wie selbstverständlich. „Ein Patriotismus zum Ersticken“, meinte dazu ein Freund in Nowosibirsk. Und in Akademgorodok sagte mir ein Philosophiestudent, er sei eben deshalb zum Treffen mit den deutschen Autoren gekommen, „weil wir uns hier in Russland oft für etwas Besonderes halten. Die Erfahrungen europäischer oder auch amerikanischer Gegenwartsschriftsteller sind uns oft egal. Nach dem Motto: Die Klassik ist vorbei, was gibt es jetzt noch zu bereden?“

Reden wir über Schnee. Diesen Vorschlag machte der neue Kleist-Preis-Träger Marcel Beyer im „akademischen Städtchen“ Akademgorodok im Wald bei Nowosibirsk. Schneesturm hatte uns aufgehalten, vor einer Schule drehten Schüler auf Skiern ihre Runden, als wir endlich auf dem Campusgelände ankamen. Aber Beyer hatte seinen Essay „Schnee, Schklowski, Skihalle“ schon in Dresden geschrieben – über den künstlichen Schnee in Sergei Eisensteins „Alexander Newski“, von dem er bei Wiktor Schklowski gelesen hatte. Dass aus Schnee Kunst werden kann, Kunst-Schnee, „mit höchster Aufmerksamkeit für jedes einzelne Kristall geformt“, aber ohne die angebliche Reinheit der Klassik, das konnten die Studenten in Beyers Workshop lernen. Er glaube immer an die „ungeheuren Möglichkeiten der Literatur“, die zu einem Werkzeug werden kann, das eigene Leben zu reflektieren und infrage zu stellen. Und: Kunstschnee schmilzt nie in der Sonne.

„Manuskripte brennen nicht“, schrieb schon Bulgakow. Auch in kriegerischen Zeiten kann man ohne Anmaßung über Literatur ins Gespräch kommen.