: Die letzte Chance
PRODUKTIONSSCHULEN Mehrere Hundert Jugendliche verlassen jedes Jahr allein in Hamburg die Schule ohne Abschluss. Einrichtungen wie die Jugendbildung können helfen
VON KNUT HENKEL
Geschickt bugsiert Janine Werner den Faden in die Öse der Nadel, dann näht sie mit schnellen Stichen den Knopf auf das schmale Stück Stoff, das ihr Sigrid Bunzel gereicht hat. Die Ausbilderin mustert die Stiche genau, dann nickt sie fast unmerklich mit dem Kopf. Sie scheint zufrieden. Die Arbeit mit Nadel und Faden ist der Einstieg, erst viel später folgt die Anweisung an den Juki-Nähmaschinen, mit denen die Werkstatt der Jugendbildung Hamburg ausgestattet ist.
Sechs Jugendliche sollen im September ihre Lehre zur Maßschneiderin oder zum Maßschneider beginnen, und wenn alles gut geht, könnte Janine Werner dazu gehören. Die 17-Jährige hatte mehr als zwanzig Bewerbungen geschrieben und die Hoffnung schon fast aufgegeben, auf dem normalen Wege in Ausbildung zu kommen. „Auf nur eine Bewerbung habe ich überhaupt eine Antwort erhalten und auch das war eine Absage“, sagt die in Hamburg-Altona lebende junge Frau.
Mit einem Notendurchschnitt von 2,8 ist ihr Hauptschulabschluss zwar nicht schlecht, aber für immer mehr Unternehmen nicht gut genug. „Wer mit einem Notendurchschnitt von 3,0 kommt und dreihundert Fehlstunden hat, fällt bereits durch das Rost“, sagt Frank Elster, der Geschäftsführer der Jugendbildung Hamburg.
An diesem Punkt setzen die Produktionsschulen an. „Sie sind quasi das Sprungbrett in den Betrieb“, sagt Elster. Das Ziel ist, die Jugendlichen nach einem Lehrjahr in der Produktionsschule in Betrieben unterzubringen.
Für 23 Berufe bietet die Jugendbildung Hamburg derzeit Produktionsschulen an, insgesamt sind es rund 1.200 Plätze. Gesucht werden Fachkräfte im Gastgewerbe, Köche und Maßschneider, die Vermittlungsquote ist hoch. „Im Bereich der Schneiderei haben wir eine Übernahmequote von einhundert Prozent“, sagt Ausbilderin Bunzel. Auch im Bereich Lager & Logistik ist die Vermittlungsquote optimal. Insgesamt liegt die Quote bei über 60 Prozent.
Die zentrale Herausforderung für die Ausbilder und Lehrer ist es, die Jugendlichen ausbildungsreif zu machen. „Das fängt mit einfachen Dingen wie Pünktlichkeit, dem Auftreten gegenüber dem Arbeitgeber beziehungsweise dem Ausbilder an“, sagt Elster. Ausbilderin Bunzel nickt zustimmend: „In den ersten Wochen ist die Anwesenheitsquote noch hoch“, sagt sie. „Doch nach zwei Monaten, tauchen die ersten Atteste auf.“ Die Jugendlichen seien auf einen Arbeitstag von acht Stunden „schlicht nicht vorbereitet“.
Für Jugendliche, die die Produktionsschule geschafft haben, ist selbst ein fehlender Hauptschulabschluss keine unüberwindbare Hürde mehr. „Wir vermitteln die Jugendlichen zu Praktika an die Betriebe, und nach sechs Wochen ist der fehlende Abschluss nur noch ein Kriterium unter vielen“, sagt Geschäftsführer Elster. Ist die Lehre geschafft, gilt sie als Schulabschluss. Fortan gibt der Gesellenbrief den Ausschlag – ein Ausweg aus der Sackgasse des fehlenden Schulabschlusses.
1.220 Hamburger Schüler haben nach Angaben der Schulbehörde im letzten Jahr die Schule ohne Abschluss verlassen. Einrichtungen wie die Jugendbildung sind für solche Jugendlichen die letzte Chance, doch es ist gar nicht immer einfach, sie zu einem Besuch zu animieren. Frust ist weit verbreitet, die Eltern sind oft Teil des Problems. Viele Jugendliche sind außerdem bereits so verschuldet, dass sie mit den 316 Euro im ersten Ausbildungsjahr schlicht nicht auskommen.
Geschäftsführer Elster wünscht sich darum mehr Hilfsangebote. Er habe schon erlebt, dass Jugendliche in Ausbildung in einer Obdachlosenunterkunft leben mussten, sagt er. „Selbst in der Prüfungsphase.“ Rund zehn Prozent der 1.200 Jugendlichen, die von der Jugendbildung betreut werden, sind wohnungslos.
Janine Werner gehört nicht zu ihnen. Die Praktikantin hat gerade ein Knopfloch per Hand genäht und ist stolz auf die sauberen Stiche. Über die Eltern, die sie unterstützen, ist sie zur Jugendbildung gekommen und Ausbilderin Sigrid Bunzel, die auch der Prüfungskommission angehört, scheint ganz angetan von der jungen Frau. Es könnte sein, dass Janine Werner im September in Barmbek ihre Ausbildung aufnehmen wird – der erste Schritt ins Berufsleben.