Die Stadt als Buch

Zvi Yavetz blickt liebevoll und doch nüchtern auf seine Jugendjahre im multikulturellen Czernowitz der 30er- und 40er-Jahre zurück

In der westukrainischen Provinzstadt Černivci tummeln sich heute die Touristen aus Österreich und Deutschland. Sie schlendern an staubigen Parks vorbei, nehmen einen teuren Kaffee im Wiener Café ein und legen einen Stein auf das Grabmahl von Mathias Zwilling und Rosa-Roth Zuckermann – die Volker Koepp mit seinem Dokumentarfilm „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ bekannt gemacht hatte. Den längst zum Mythos gewordenen Ort Czernowitz suchen sie jedoch vergebens.

Paul Celan nannte die Bukowina und ihre Hauptstadt Czernowitz „das Land, in dem Menschen und Bücher lebten“. Heute lebt diese Stadt nur noch in den Büchern. Etwa in Zvi Yavetz’ „Erinnerungen an Czernowitz“. Der israelische Altertumsforscher, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit Studien über die römischen Kaiser Tiberius und Augustus einen Namen gemacht hat, erzählt darin von seiner Jugend in der multikulturellen Stadt, die einst türkisch war, dann Teil des Habsburgerreichs, später rumänisch, sowjetisch und heute schließlich ukrainisch. Ihre Bewohner mussten, wie ein Witz erzählt, erst mal in der Zeitung nachschauen, bevor sie die Frage nach ihrer Staatsangehörigkeit beantworten konnten.

Der Autor beschreibt sein Leben während der 30er-Jahre, als das blühende Städtchen zur Hälfte von Juden bevölkert war, zudem von Deutschen, Rumänen, Polen, Ukrainern und Armeniern. Yavetz erinnert sich mit viel Liebe zum Detail an die bildungshungrige Mutter, die schlagfertige Großmutter, die in deftigem Jiddisch sprach; an den wachsenden Antisemitismus und den rumänischen Nationalismus auf seiner Schule; die Diskussionen in den zionistischen Jugendbewegungen, für die er sich interessierte.

Er erinnert sich aber auch an die verschneiten Winter, an die Knöpfchenspiele auf dem Schulhof und die Witze, die dort erzählt wurden. Interessant ist, wie detailliert er die jüdischen Zeitungen beschreibt, die in Czernowitz erschienen. Zwischen 1848 und 1940 wurden in dem Städtchen 370 Zeitungen publiziert, darunter 200 deutsche, 68 ukrainische und 24 jiddische. Allein ihre ungeheure Zahl ist Beleg für das reiche intellektuelle Leben der Stadt.

Zvi Yavetz’ Erinnerungen reihen sich ein in die umfängliche Literatur zu Czernowitz – zugleich liebevoll und doch nüchtern blickt der 82-Jährige auf die Stadt seiner Kindheit zurück. Wie konnte, fragt er sich immer wieder, die jüdische Bevölkerung nur so lange den gefährlichen Antisemitismus unter den Rumänen und Deutschen unterschätzen?

1942 gelang es Yavetz, aus „der damaligen Hölle zu flüchten“. Über Umwege gelangte er nach Palästina. Heute ist er emeritierter Professor der Universität Tel Aviv, Czernowitz hat er nie wieder gesehen. In seinem Buch hat er es präzise und farbig gezeichnet.

HEIKE HOLDINGHAUSEN

Zvi Yavetz: „Erinnerungen an Czernowitz. Wo Menschen und Bücher lebten“. Verlag C. H. Beck, München 2007, 254 Seiten, 24,90 Euro