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Archiv-Artikel

Wo Skandinavien wirklich anfängt

Das Danewerk ist das größte Wikingerbauwerk der Welt. Jetzt soll er gemeinsam mit dem benachbarten Haithabu ein Touristenmagnet werden. Sogar der Schutz als Unesco-Weltkulturerbe soll demnächst beantragt werden

VON MART-JAN KNOCHE

Ein weißer Bussard segelt in der Luft. Kreist irgendwo zwischen ozeanblauem Himmel und schwarzer Erde. Dunkel und zerwühlt liegt ein Acker zu unseren Füßen. Wir stehen im Wind neun Meter hoch auf der Artillerieschanze 14: Es ist ein touristischer Aussichtspunkt entstanden, wo einst das Panorama des Krieges war. Kilometerweit spähen wir ins Feindesland von einst. Da liegt die Schleswiger Landschaft.

Der Blick geht nach Süden. Eichen und Buchen umsäumen die Felder. Hinten tauchen winzige Häuschen auf, eine Kirchturmspitze ragt empor. Dann wieder Felder, Felder so weit das Auge reicht. Von dort stießen die preußisch-österreichischen Truppen vor. Im Jahr 1864. Eine von Bismarck geschmiedete Blut-und-Eisen-Allianz eröffnete den Deutsch-Dänischen Krieg um die Herzogtümer Schleswig und Holstein. 61.000 Soldaten fielen in Holstein ein. Die Dänen standen hier. Am mehr als tausend Jahre alten Danewerk bei der Stadt Schleswig.

„Quer über die ganze Halbinsel Schleswig hinweg liegt bald hinter der Eider das so genannte Danewerk“, so ist in Bismarcks Kriegs-Blättchen „Provinzial-Correspondenz“ vom 10. Februar 1864 nachzulesen. „Eine ganze Linie von Wällen und Festungswerken, überall geschützt durch Flüsse und Wasserflächen und bietet jedem Angriff Hindernisse der allerschwersten Art.“ Das dänische Militär hatte einen monumentalen Verteidigungswall der Wikinger nach rund fünf Jahrhunderten im Dornröschenschlaf reaktiviert. Sie läuteten damit die Wiederentdeckung ein: Heute ist das Danewerk das größte archäologische Denkmal Nordeuropas.

Willi Kramer stelzt großen Schrittes von der Artillerieschanze 14 hinab in Richtung Hauptwall. „Es ist das größte Bauwerk, das die Wikinger je errichtet haben“, sagt er. Kramer ist der Gebietsdezernent am Archäologischen Landesamt Schleswig-Holstein und bestens vertraut mit jedem Abschnitt der knapp 30 Kilometer langen Anlage. „Der Wall sollte Jütland nach Süden absichern.“ Die Wikinger bauten ihn ab dem Jahr 737 in die Schleswiger Landenge: Dort, wo von der Ostsee die Schlei fünfunddreißig Kilometer in das Land reicht, und wo im Westen die moorigen Marschgebiete der Nordsee, die Eider und die Treene liegen, und den begehbaren Boden auf eine Passage von ganzen zwölf Kilometern verengen. Mit pharaonischem Aufwand sorgten die Häuptlinge für die Schließung der Landenge. Slawische Angriffe sollte sie abwehren. Wie oft die angriffen? „Also, zwei Versuche sind überliefert“, sagt Willi Kramer, nachdem er kurz überlegt hat.

Aus der Erde des Hauptwalls ragt eine backsteinerne Wand. „Die Waldemarsmauer ist das erste Ziegelbauwerk Nordeuropas“, sagt Willi Kramer. Um 1165 begann der dänische König Waldemar I. den Bau. Derzeit wird sie für 220.000 Euro restauriert – damit der Regen den uralten Mörtel nicht aus den Fugen spült. Zu ihrer Zeit sei sie die stärkste Mauer nördlich der Alpen gewesen, schwärmt Archäologe Kramer. „Da konnte man sich mit einem Nachbarn wie Friedrich Barbarossa auf gleicher Augenhöhe verständigen.“ Von der Ziegelmauer des Waldemar bis nach Sizilien breitete sich das Reich des Stauferkaisers aus.

Der weiße Greifvogel wirkt über alldem, als kreise er schon ein Jahrtausend dort am Himmel: über den Häuptern der Normannen, dem Reich von Karl Martell und von Friedrich Barbarossa, über Dänen, Preußen und dann – nachdem sie sich gefunden hatten – über den Deutschen. Willi Kramer wünscht sich, dass der weiße Bussard bald seine Kreise über den Köpfen eines neuen, eines multinationalen Volkes zieht: den Touristen.

Man beginne jetzt im großen Stil die gesamte Wallanlage mit Informationstafeln auszustatten, sagt Kramer und fügt hinzu: „Die erste Sprache am Danewerk ist Dänisch.“ Was bedeutet, dass der deutsche Text immer auf der Rückseite steht. Schließlich gilt das Bauwerk in Dänemark als Nationaldenkmal.

Einige Meter weiter betreiben dänische Schleswiger ein beschauliches Danevirke-Museum. Auch hier führt Kramer uns vorbei. Es liegt an zweifach historischer Stätte: Gleich am Wall und zudem im Ochsenweg Nr. 5. Aus uralten Zeiten stammt dieser Heeresweg, der wohl genau hier das Danewerk in Richtung Norden durchschnitt. Südlich endet er am Ochsenzoll, im rund zweihundert Kilometer entfernt gelegenen Hamburg. Wie viele Tage brauchten die Ochsenkarren wohl damals auf dem holprigen Pfad dorthin? Heute waren es neunzig Minuten mit einer italienischen Karre auf der A 7.

Die Fahrt nach Schleswig birgt manch Überraschendes. „Willkommen in Skandinavien“, begrüßte Willi Kramer uns in seinem Büro. Am Telefon hatte Herr Kramer noch wie ein vernünftiger Mann gewirkt. Ist er auch. Jeder einfältige Geographielehrer glaubt, die Grenze zu Skandinavien verliefe naturgemäß dort, wo die dänisch-deutsche Grenze hingesetzt wurde. Seit der letzten Verschiebung von 1920 also bei Flensburg? „Nein“, entgegnet Kramer. „Sie wird geografisch definiert und verläuft genau hier, wo sich Nord- und Ostsee ganz nahe kommen.“ Entlang dem Danewerk.

Herr Kramer bastelt an wahrhaft Großem: In vier Jahren soll das weltumspannende Wikinger-Reich wieder zusammmen gefügt sein. „Gemeinsam mit Wikinger-Projekten in Kanada, Island und Skandinavien haben wir uns bei der UNESCO beworben – um die Anerkennung als Weltkulturerbe.“ Touristen in Strömen will der Archäologe ans Danewerk holen – und nach Haithabu, der einstigen Wikinger-Hauptstadt des Nordens. Einige Kilometer südlich von Schleswig, direkt an der Schlei, wird seit rund hundert Jahren die Handelsstadt ausgegraben.

Der erste überlieferte touristische Gast in Haithabu hieß Ibrahim ibn Ahmed at-Tartuschi. Er reiste aus dem reichen iberischen Córdoba an und berichtete von Kultur und Gesang: „Nie hörte ich hässlicheren Gesang als den Gesang der Leute von Schleswig“, schrieb Ahmed at-Tartuschi vor etwa tausend Jahren nieder. „Und es ist ein Gebrumm, das aus ihren Kehlen herauskommt, gleich dem Gebell der Hunde, nur noch viehischer als dies.“

Wir vernahmen nichts derartiges an diesem Tag – nur, dass vor einigen Tagen bei Haithabu eine rekonstruierte Landebrücke aus der Wikingerzeit eröffnet wurde. Das Vorbild stammt aus dem Jahr 885. „Das gibt es in keinem anderen Freilichtmuseum in Deutschland und Skandinavien“, hieß es bei der Eröffnungsfeier. Deutschland und Skandinavien? Das ist hier doch dasselbe, wie Herr Kramer weiß.