ALS LEHRERIN IN EINER DÄNISCHEN VOLKSSCHULE, DEREN KONZEPT EIN WENIG AUS DER ZEIT GEFALLEN SCHEINT : In den Strahlen der halben Sonne
REBECCA CLARE SANGER
Die Jeans sitzt ihm locker, ist hochgezogen und hat Hochwasser, er trägt jeden Tag Turnschuhe und ein kariertes Hemd. Die Schule, so soll mir in den nächsten Wochen klar werden, ist wie eine Kinderfilzstiftzeichnung einer über dem Wasser untergehenden Sonne angeordnet, einer halben Sonne nämlich, in den Strahlen sind die Klassenräume der Ersten bis Zehnten untergebracht, im Zentrum das Lehrerzimmer und – mit Idealismus im Konzept – die Schulbibliothek. Viel Licht, viel Platz, viele Sitzecken und viele Fenster haben die Designerhippies vor 40 Jahren in den Bau fließen lassen, und keine einzige senffarbene Gardine.
„Die Schule ist sehr groß für die rückläufigen Schülerzahlen“, erzählt Henrik aus seinen zu großen Hosen heraus. „So hatten die Lehrer zur Umstellung wenigstens genügend Arbeitsräume.“ Vor einem Jahr wurden die dänischen Folkeskolelehrer unter großen Protesten zu einer effektiven Lohnkürzung und einer 37-Stunden-Woche umstrukturiert. Sie müssen sich nun von von 7.30 bis 15 Uhr in der Schule aufhalten und sollen dort neben 27 Unterrichtsstunden auch alle ihre Vorbereitungen erledigen. Da kommen die Extraarbeitsräume ganz recht.
Wie Bienen surren die Schüler in den Gängen, oder genauer genommen ihre Telefone und iPads. Die Schüler liegen in Sitzecken, zu denen sie ihre Schülertoiletten dazurechnen; oben wie unten. Denn die Gänge und Klassenräume haben derart hohe Decken, dass in den Gängen partielle zweite Etagen eingezogen sind, um auch dort Sitzecken unterzubringen. Ab und an stellen sich zwei oder drei Jugendliche an die Fenster zu den Klassenräumen – wie um zu kontrollieren, dass der Unterricht, den sie gerade schwänzen, auch wirklich stattfindet. „Wir müssen andauernd unsere Schüler wieder aus den Gängen in unseren Unterricht holen, mach dir mal keine Sorgen, dass liegt nicht an dir“, sagt mir Liz, die Englischlehrerin, zwei Wochen später.
Und hoffentlich auch nicht am Thema. „Alles klappt (im nächsten Jahrtausend)“ heißt das Lehrwerk ähnlich idealistisch wie die zentral untergebrachte Schülerbibliothek; und die Umstellung auf den Euro haben die Verfasser derzeit nicht kommen sehen. Ihre Protagonisten heißen Mannie oder Sabine oder Bärbel und machen Praktikum beim Möbelpolsterer oder beim Buchdrucker oder in der Stadtverwaltung.
„Arbeitslos“ – heißt das Wochenthema. Isabells Vater hat die Arbeit als Fabrikarbeiter verloren, wird depressiv und traut sich nicht zur Tür hinaus, um seine paar Mark Arbeitslosengeld abzuholen. Was ist, wenn die Nachbarn ihn sehen?
Die Mehrzahl der Schüler dreier neunten Klassen, die bevorzugt ihre Schulzeit im Internet oder im Flur verbringen, wählen ausschließlich die Adjektive „faul“ und „egoistisch“, um die Protagonisten zu beschreiben. Mein vager Versuch, sie den Begriff „Generation Praktikum“ googeln zu lassen, um sie dem Problem näherzubringen, endet im Leeren. Der dänische Wikipedia-Eintrag für „Generation Praktikum“ ist nämlich nur sehr kurz.
Henrik habe ich übrigens in meiner restlichen Zeit als Aushilfslehrer vergeblich gesucht. Er ist offensichtlich nach 30 Jahren im Lehrdienst und Führungsposition weggespart worden; im Lehrerintranet wurde die Neubesetzung der nun nurmehr 5 statt 9 Stellen bekannt gegeben, sein Name war nicht darunter.
Rebecca Clare Sanger pendelt mit Mann und Kindern zwischen Hamburg und der dänischen Insel Møn; was sie dabei erlebt, steht alle zwei Wochen an dieser Stelle. Einen Sammelband mit ihren „Hamburger Szenen“ aus der taz.hamburg hat der Verlag Michason & May unter dem Titel „Hamburg Walking“ veröffentlicht.