BITTE EINEN SCHNAPS : Der Sound von Berlin
Nach über 20 Jahren in Berlin ist mir nichts Menschliches mehr fremd. Männer oder Frauen, die laut mit sich selbst reden oder „Ficken!“ schreien, Mütter, die Fragen ihrer Kinder mit „Schnauze!“ quittieren, Fahrgäste, die in der U-Bahn verstümmelte Gliedmaßen vorzeigen, um die Spendenbereitschaft in die Höhe zu treiben, Busfahrer, die „Ick hab Zeit“ motzen und sich weigern weiter zu fahren, wenn jemand mit einer Tüte Chips mitwill.
Kürzlich war eine Tante, die in einem Dorf bei Magdeburg wohnt, zu Besuch. Wir waren in einem Café in der Kastanienallee verabredet. Kaum hatten wir uns begrüßt, platzte es aus ihr heraus. „Ich brauch jetzt erst mal einen Schnaps!“ Besuche ich meine Tante auf ihrem schönen alten Hof in der Börde, ist es meist eine Frage von Minuten, bis der erste Schnaps gereicht wird. Dass sie auswärts und am frühen Nachmittag ein Glas brauchte, wunderte mich dann doch. „Was ist denn los?“, fragte ich besorgt. Sie rang nach Worten, und ich bekam ein schlechtes Gewissen. War sie ausgeraubt worden oder Zeuge einer Schießerei geworden? „So was ist mir noch nie passiert“, presste sie heraus und erzählte, wie sie in der Nähe der Humboldt-Box einen Mann nach dem Weg gefragt und der sie als blödes Arschloch beschimpft hatte. „Ach so“, erwiderte ich und war ein wenig enttäuscht.
Nun ist es nicht so, dass meine Tante nicht aus ihrem Dorf rauskommt. In ihren Funktionen als Kassiererin, stellvertretende Geschäftsführerin und zum Schluss amtierende Geschäftsführerin des SPD-Landesverbandes Sachsen-Anhalt ging sie im Willy-Brandt-Haus quasi ein und aus. Doch der Ton bei den Genossen, das ist mir jetzt klar, muss ein äußerst lieber sein. Als ich ihr sagte, dass ich längst Alkoholiker wäre, wenn ich jede Arschloch-Titulierung mit einem Schnaps begießen würde, bestellten wir zwei Weißweinschorle.
BARBARA BOLLWAHN