Die Kälte ist dem Bösen näher

SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN Das Winterheft von „Wespennest“ erkundet den „Norden“

„The Idea of North“ hieß eine Radio-Dokumentation des kanadischen Pianisten Glenn Gould aus dem Jahr 1967. Angeregt von seiner Faszination für die arktischen Regionen seines Landes, ließ er in dieser mehrstimmigen Collage Menschen zu Wort kommen, in deren Leben der Norden eine entscheidende Rolle gespielt hat. Dass es sich dabei um mehr als ein bloßes Territorium handelt, gibt schon der Titel zu erkennen: Die „Idee des Nordens“ spricht von einem imaginären Raum, dessen Konturen sich schwer umreißen lassen.

Auch in Skandinavien gibt es diese abstrakte Identifikation mit einer Himmelsrichtung, beginnt die schwedische Nationalhymne „Du gamla, Du fria“ aus dem Jahr 1844 doch mit den Worten „Du alter, du freier, du gebirgiger Norden“. Wie es heute um diese „nordische Identität“ bestellt ist, fragt die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Wespennest. Skandinavier kommen darin ebenso zu Wort wie Russen, wobei die politische Aktualität des Schwerpunkts gleich im Editorial anklingt: Die Winterolympiade in Sotschi wird dort in direkten Zusammenhang gebracht mit der Annexion der Krim.

Interessant sind daher die abweichenden Strategien der „Aneignung“ des Nordens in Nordwest und Nordost. Für den schwedischen Literaturwissenschaftler Stefan Jonsson etwa unterscheidet sich die nordische Identität von anderen kollektiven Bildern dadurch, „dass sie kein Verhältnis zu einem imaginären Feind konstruiert“. Ohne Gegenbild kommt, so Jonsson, jedoch auch die nordische Identität nicht aus. Statt gegen einen „kulturellen Feind“ grenzt sie sich gegen etwas anderes ab, das zum stereotypen Bild des Nordens gehört: die Natur.

Die „Urzelle“ nordischer Texte und Bilder findet Jonsson in der bäuerlichen Gemeinschaft, die, zunächst dem natürlichen Kreislauf zugehörig, später Gesellschaft und Kultur gründet, „mit allen dazu gehörenden Grenzziehungen zwischen dem Eigenen und dem Anderen, dem Gebildeten und dem Wilden, dem Heimischen und dem Fremden, dem Blonden und dem Dunklen“. Jonsson liest diese Szene als eine koloniale – „das heißt, dass sie auf Eroberung, Besitzergreifung, Siedlung, Kartografierung, Einteilung, Grenzziehung und kultureller Verwandlung basiert“. Während die nordische Identität für Jonsson im Kern kolonial geprägt ist, versteht der Mediävist Kirill Kobrin ihre russische Entsprechung als „imperialistisch“: „Die russische territoriale Expansion war vor allem ‚Landnahme‘ und erst in der Folge ‚Eroberung von Staaten‘ und ‚Bezwingung von Völkern‘. Hauptobjekt dieser Expansion waren nicht Menschen, sondern Räume.“ Woraus Kobrin folgert: „Die Idee der ‚Eroberung des Nordens‘ ist im Grunde keine koloniale, sondern eine imperialistische.“

Unklar bleibt in diesem Zusammenhang, warum Imperialismus mehr mit Landnahme zu tun haben soll als Kolonialismus, doch an Kobrins Einschätzung überzeugt ein anderer Gedanke: „Herrschaft über die Leere ist eine Metapher der Macht an sich, einer idealen Macht, die ein Subjekt, aber kein Objekt hat.“ Mit der gegenwärtigen russischen Krim-Politik mag das zwar wenig zu tun haben, der Satz bekommt aber eine große Plausibilität, wenn man nordwärts schaut, in Richtung Sibirien. Oder wie es bei dem russischen Konservativen Konstantin Pobedonoszew heißt, den Kobrin als Beispiel für die russische Idee des Nordens zitiert: „Russland ist eine Eiswüste, durch die ein draufgängerischer Kerl spaziert.“

Eine unheimliche Dimension bekommt die russische Version des Nordens dann bei dem Schriftsteller Alexander Ilitschewski, der sich grundsätzliche Gedanken zum Zusammenhang von Klima und Zivilisation macht: „Kälte und Frost sind häufigere Todesursachen als Hitze. Allein deshalb sind sie dem Bösen näher, dem Kokytos der Unterwelt. Der scharfsinnige Dante, ja die damalige Weltkultur überhaupt, hatte noch keinerlei Vorstellung vom Leben in Gegenden, wo der Kampf gegen den Frost einen Großteil des Tages ausmacht.“ Ilitschewskis Fazit: „Gedanken und überhaupt Zivilisation sind Produkte der Wärme und eines zuträglichen Klimas.“

TIM CASPAR BOEHME

■  Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder, Nummer 167, November 2014, 12 Euro