: Das Schiff verändert jeden Menschen
Durch das Leben und Arbeiten auf dem Segelfrachter „Undine“ lernen schwierige Jugendliche aus Norddeutschland Teamfähigkeit, Werte und Verantwortung kennen. Betreut werden sie dabei von Pädagogen, die in diesem Jahr mit den Jugendlichen sechs Wochen lang ins Baltikum segelten
Der zweimastige Gaffelschoner „Undine“ wurde 1931 in Hamburg gebaut. Seit 1984 unternimmt Europas letzter Segelfrachter in Besitz des überregionalen Hamburger Jugendhilfezentrums „Gangway e. V.“ in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt mehrmals jährlich Reisen mit schwierigen Jugendlichen, vor allem aus Norddeutschland. Die Ziele dieser Törns reichen bis ins Mittelmeer. Neben dem knapp 30 Meter langen Stahlschiff unterhält der gemeinnützige Verein mit 40 Mitgliedern (www.gangway.info) auch stationäre, flexible und ambulante Hilfseinrichtungen, inklusive eigener Schule und organisiert niedrigschwellige Arbeits- und Qualifikationsprojekte zur Integration in Arbeit und Beruf. Die Hilfsgüter der aktuellen Reise nach Riga wurden von Lübecker Lebensmittelherstellern für dortige Suppenküchen gesponsort. Demnächst wird die erste Reise mit schwierigen Mädchen unternommen. JFR
VON JAN FREITAG
Marcel sieht müde aus. Hundemüde. Kein Wunder, es ist Mitternacht – eine ungemütliche Zeit zum Aufstehen, gerade für ihn, dem Langschläfer. Marcel ist trotzdem pünktlich, die Wache ist ihm schließlich so wichtig wie die sechswöchige Reise auf dem Segelfrachter „Undine“ insgesamt. Mit schiefem Basecap, rappendem Handy und Kippe im Mund kriecht er aus seiner Kajüte und scheint doch im Geiste noch drin zu liegen. Marcel spricht kein Wort, wie so oft. Marcel ist ein Schweiger, eher antriebslos, ein fauler Sack, wie die anderen an Bord sagen. Marcel sagt: „Ich mache das, was nötig ist.“
Nötig ist auf dem alten Zweimaster aus Stahl eine ganze Menge an Arbeit und Marcel verrichtet sie weitaus gründlicher, als man dem schlaksigen Teenager im gettobewehrten Dresscode zutraut. Er tut es mit aller gebotenen Renitenz eines 17-Jährigen mit kritischer Biografie, wie es im Soziologendeutsch heißt, aber er tut es. Wenn auch widerwillig. Sechs Wochen segelt die Handvoll schwieriger Altersgenossen von Lübeck mit Hilfsgütern nach Riga und mit Brennholz aus litauischen Wäldern zurück. Es ist eine Chance. Marcel weiß das.
Dennoch – auch auf einer Erziehungsreise in Kooperation mit dem Jugendamt gilt es, die eigene Position zu behaupten, Grenzen abzustecken, Hierarchien auszuloten im vierundzwanzigstündigen Auskommen mit der neunköpfigen Crew aus Seeleuten, Pädagogen und Jugendlichen auf engstem Raum.
Er könne den Kapitän in Küstennähe nicht allein navigieren lassen, ruft einer der ausgebildeten Seeleute freudlos durch die kalte Nacht in den warmen Aufenthaltsraum. „Du hast Wache!“ Marcel steht auf, besinnt sich kurz, setzt sich wieder und nölt einen jener Sätze, die er sich einst im Hamburger Problemstadtteil Neuwiedental antrainiert hat: „Ey, chill’ doch mal.“ Ein Schluck Kakao noch, dann geht Marcel an Deck und erledigt seinen Job. Verzögern, testen, nachgeben – so geht das Spiel.
Kleine Kompetenz-Scharmützel wie dieses gehören auf der „Undine“ dazu, Hauptsache der gegenseitige Respekt geht nicht verloren. Seit 1984 fährt das Schulschiff des Jugendhilfevereins „Gangway“ mit Problemkids zur See. Im Team sollen Schulverweigerer, Halb-, Voll- oder Zeitwaisen, Gewalttäter und opfer, Klein- wie Größerkriminelle zu besseren Teilen der Gesellschaft werden. Früher hieß das Prinzip Segelpädagogik, doch seit sie in den Ruf geriet, dass schlimme Jungs nur schlimm genug sein mussten, um ein wenig subventioniert in die Karibik zu jetten, spricht man abstrakter von Arbeitspädagogik.
Der Begriff ist in der Tat treffender. Wenn die Fahrt ins Baltikum ein Urlaub ist, dann ein anstrengender vom Alltag am Rande der Metropolen. Ein ungemein strukturierter zudem, mit Regeln, Werten und Verantwortung, wie sie vielen der jungen Passagiere sonst fremd sind. Ob die Fahrt den Heranwachsenden zwischen 13 und 17 mehr gebracht hat als Ferien von der Tristesse aus Wohngruppen, Sonderschule und Langeweile, mag kurz vor ihrem Ende keiner beantworten. Noch nicht. „Es war eine gute Entscheidung“, sagt Marcel plötzlich sehr fest im Tonfall. Dann schweigt er wieder lange und fügt leise hinzu: „Glaub ich.“ Sabine Hoyer, eine von zwei Betreuern, wird das bereits als Fortschritt deuten, dieses Nachdenken, das Besinnen, der Sieg des Kopfes über den Bauch.
Es ist ein fragiler Triumph, in den Weiten des Wassers, wo man nicht einfach aussteigen, weggehen, flüchten kann. Zwei haben es dennoch getan, weil sie „den Geist des Ganzen nicht verstanden“ haben, wie es Susanne Hoyer ausdrückt. Deshalb durften sie vorzeitig heim. Nach intensiven Gesprächen, versteht sich, nach gruppentherapeutischen Sitzungen und allerlei anderen Hilfsangeboten. „Wir sind ja kein Knast“, sagt die robuste Frau von 41 Jahren, „aber zum Crash ist es erst zweimal gekommen“, zum Abbruch also.
Dummerweise auch, als vor sechs Jahren der Dokumentarfilmer Stefan Adam vom NDR dabei war. Das festgehaltene Scheitern ist allerdings eine Sollbruchstelle solcher Projekte – wenn die Wissenschaft am Ende ist, hilft oft nur die Notbremse. Damals dauerte der Trip jedoch sechs Monate, seither schrumpft die Dauer kontinuierlich. Auch aus Kostengründen, denn die reiche Hansestadt spart gern an ihren Brennpunkten. Auch aus Altersgründen, denn gerade Jungen unter 16 sei nicht jede Zeitspanne zumutbar. Besonders aber wegen des großen Konfliktpotenzials an Bord.
„Heul doch“, ruft Daniel, das Küken, rüber zu Kevin, dem mittleren des verbliebenen Trios, als der das abendliche Einholen des Beiboots beklagt. „Du heulst gleich“, zischt der 15-Jährige zurück und schiebt einige nicht zitierfähige Schimpfwörter nach. Der Umgangston ist rau an Bord. Doch er sei kein Vergleich zum Beginn der Reise, beteuern die Erwachsenen. Vier Jahre Altersunterschied sind in dieser Phase schon bei behüteten Kindern eine Ewigkeit; für Jugendliche wie diesen, mit alkoholkranken Müttern, entfremdeten Vätern, zerrütteten Familien, mit Dauerkonflikten, Lernverweigerung und Aggressivität und all den bestätigten Vorurteilen des Wohnens im betonierten Außenbezirk, stellen sie eine leicht entflammbare Lunte am Pulverfass Pubertät dar. Außerdem könnten Daniel, Marcel und Kevin unterschiedlicher kaum sein.
Während der wortkarge Marcel zum Beispiel ständig schläft und selbst im wachen Zustand selten aus dem Ruhepuls gerät, ist Kevin rastlos, nervös, fast hyperaktiv. Und dazwischen steckt Daniel, die Leseratte mit abrupten Energieschüben und erstaunlichem Wortschatz für einen 13-jährigen Sonderschüler. Er will sich für seine 200 Euro Heuer eine Kamera kaufen. Beim gemeinsamen Abendessen erzählt er davon, besser: jubelt darüber. Was ein Objektiv sei, fragt Kevin arglos und Marcel beklagt, dass Daniel „so ein Naseweis“ sei, mit all den „komischen Worten“. Das komme vom vielen Lesen.
„Harry Potter“ etwa, an Bord gibt es zwei Bände. Sie haben sogar Kevins Liebe zur Literatur geweckt. Zum ersten Mal in seinem Leben. „Und wilde Himbeeren hat er gesammelt“, erzählt Susanne Hoyer vom Landgang im Osten. Manchmal leuchte bei jemandem mit Getto-Mentalität eben der kleine Junge durch.
Marcel räumt derweil den Frühstückstisch auf. Ohne Aufforderung. Wortlos. Er möchte am besten allein sein. Durch den regelmäßigen Schichtwechsel ist das durchaus möglich. Jeder hat zu festgelegten Zeiten Wache, immer abwechselnd. Jeweils vier Stunden lang, dreimal täglich, Tag für Tag. Nur unter Segeln, im Sturm, beim Laden, Essen oder Ankerholen ist das Team gefordert. Auf einer Insel vor Flensburg wird das Holz abgeladen und alle hängen sich rein, als gäbe es Akkordlohn. „Das macht das Schiff“, sagt Harald Switters, der Kapitän mit standesgemäßem Vollbart in grau. Es verändert den Menschen, jeden Menschen. Es macht ihn verträglich und sei er vorher noch so egoistisch.
Kevin würde sofort weitersegeln, auf die nächste Tour, auch wenn er noch müde ist von seiner ersten. Dann beginnt er wieder zu lesen. Vom Zauberer aus dem Märchenland. Bis er schläft.