ANDREAS FANIZADEH LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Mit Gottfried Benn durch die Berliner Nacht

Es herrscht eine Aufbruchstimmung in Deutschland, schreibt der Poltikwissenschaftler Roland Roth im Vorwort seiner jüngst erschienenen Schrift „Bürgermacht“ (Edition Körber-Stiftung 2011). Aufbruchstimmung also.

Nach einer Gottfried-Benn-Lesung rauschen wir im japanischen Kleinbus durchs nächtliche Berlin. Es ist die Nacht von Samstag auf Sonntag, die Straßen sind zumeist menschenleer im Berliner Westen. Vorbei an Plakaten: Renate Künast (Die Grünen) „sorgt“, Klaus Wowereit (SPD) „versteht“ und „Privat ist Katastrophe“ (Die Linke). Privat ist Katastrophe, das steigert die Stimmung unserer Gottfried-Benn-Reisegruppe, auch wenn sich die Auffahrt zur Stadtautobahn als gesperrt erweist.

Es ist Wahlkampf in der Hauptstadt, deren soziale Probleme in den letzten zehn Jahren relativ geräuscharm von östlicher Linkspartei und westlicher SPD gemeinsam moderiert wurden. Das an sich ist schon eine Leistung. Die links-alternative Opposition, die Grünen, tun sich entsprechend schwer, eine Position zu finden. Die Mieten steigen, doch Rot-Rot hält die Balance und garantiert den sozialen Frieden für eine Stadt, die sich wie keine andere seit dem Ende des Kalten Kriegs verändern musste.

Nahe Kurfürstendamm dann ein gelbes Wahlplakat der liberalen Opposition: „Welche Alternativen gibt es zu einer Helmpflicht in der U-Bahn? Eine prompte Rechtsprechung. Wer sich vergisst, wird sofort erinnert“, heißt es da. Die dünne blaue Schrift der FDP ist schon kaum zu lesen, noch schwerer ist sie zu begreifen. Die Insassen unseres japanischen Gottfried-Benn-Busses sind bester Laune und freuen sich über einen bräsigen Citröen-Picasso-Fahrer aus dem Berliner Umland. Er hat uns angehupt, und wir hupen zurück. Was für ein Spaß!

Aber wo sehen Politikwissenschaftler wie Roland Roth eine „Aufbruchstimmung in Deutschland“? Bis Stadtmitte, Potsdamerplatz, bleiben die Straßen weiter menschenleer. Roth beschwört den „arabischen Frühling“, Fukushima und Stuttgart 21. Zum ersten Mal seit 1969 und Willy Brandts Regierungserklärung „Mehr Demokratie wagen“ sei „die Demokratisierung der institutionellen politischen Praxis in Deutschland nicht nur ein Thema der Straße, sondern auch zur Regierungsangelegenheit geworden“.

Zum ersten Mal? Rot-Grün gab es also gar nicht. Roth ist kaum leichter als die FDP zu verstehen, zumal er auch noch sagt: „In Spanien und Portugal orientieren sich jugendlich geprägte Oppositionsbewegungen am arabischen Vorbild, distanzieren sich von den etablierten politischen Repräsentanten und besetzen dauerhaft zentrale öffentliche Plätze.“ Das wünscht sich Roth natürlich auch für Deutschland. Unsere kleine Gottfried-Benn-Gesellschaft steuert derweil endlich wieder Richtung Alexanderplatz, in den Osten, wo die Mieten so steigen. Orientieren sich Spanier oder Portugiesen wirklich am arabischen Vorbild?

Quatsch mit Soße, meint unser Fahrer, ein geborener Berliner. Das müsse ein Politologe wie Roth doch wissen. In Diktaturstaaten wie Libyen oder Syrien kämpfe man doch um Grundlegenderes als Roths Demokratielotsen, Demokratieassistenten und partizipative Bürgerhaushalte.

Angekommen am Alexanderplatz herrscht Aufbruchstimmung in unserer kleinen Reisegruppe. Der klapprige japanische Kleinbus entschwindet durch die Nacht, während andere zu Fuß eine hinter der Volksbühne-Am-Rosa-Luxemburgplatz gelegene Erwachsenenbar ansteuern. Privat ist keineswegs Katastrophe.

Andreas Fanizadeh leitet das Kulturressort der taz Foto: privat