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Archiv-Artikel

Toter Fisch, gelbes Glück

LYRIK Boom: Neue Gedichtbände von Marica Bodrožić, Nora Bossong und Judith Zander

Mitunter erinnert dieses Hin und Her an die DJ-Technik des Scratchens

VON ANDREAS WIRTHENSOHN

Erinnert sich noch jemand? 1999 war es, da rief der Literaturkritiker Volker Hage frohlockend ein „Fräuleinwunder“ in der deutschsprachigen Literatur aus. Statt altgedienter Literaturdamen legten nunmehr – offenbar ganz plötzlich und überraschend – junge Autorinnen Romane und Erzählungen vor. Judith Hermann war eines dieser Wundermädels, Zoë Jenny ein anderes, und wie sich herausstellen sollte, tat zumindest diesen beiden die Last, Wunder zu sein, nicht nur gut. Judith Hermann ist literarisch nie wirklich über ihren Erstling „Sommerhaus, später“ hinausgekommen, und Zoë Jenny hat nach all den Verrissen der letzten Jahre entnervt die Sprache gewechselt und jüngst einen Roman auf Englisch vorgelegt.

Und Volker Hage? Der beschäftigt sich zuletzt wieder vermehrt mit älteren oder bereits verstorbenen Herren der Literatur – Philip Roth, Max Frisch, Walter Kempowski. Einzig und allein das „Fräuleinwunder“ hat sich als erstaunlich nachhaltig erwiesen und beschert uns seit nunmehr über zehn Jahren jede Menge mal guter, mal schlechter Bücher von jungen Autorinnen.

Das gilt auch und gerade für die Lyrik. Auch im nicht gerade auflagenstarken Gefilde der Poesie gibt es schon seit längerem in erfreulicher Regelmäßigkeit höchst bemerkenswerte Produkte aus junger weiblicher Feder zu bestaunen – und vor allem auch zu lesen. Die 1973 in Dalmatien geborene Marica Bodrožić beispielsweise legt mit „Quittenstunden“ ihren dritten Gedichtband vor und frönt dort der eher ungewöhnlichen Form des Langgedichts. Assoziativ erinnernd, erzählt sie darin von der eigenen Kindheit, von der Familie und dem „gelben Glück“ der Quittenstunden. Das wirkt mitunter seltsam idyllisierend, ungebrochen, ja, fast kindlich naiv. Man kann das Ganze aber auch als Versuch lesen, die vergangenen Erfahrungen noch einmal authentisch, unverstellt durch Späteres zu evozieren. „Gedächtnis ist Gegenwart / Vergangenheit aber ist für einen Moment / nur ein Punkt / in deinem Kopf“.

Nein, naives Dichten kann man Bodrožić wahrlich nicht unterstellen, dafür spricht sie zu reflektiert über die Zeit und über die Sprache, in diesem Fall das Deutsche, das ja erst später zu ihrer neuen Muttersprache wurde. „Zeitteppiche“ weben diese Gedichte, „ein Wortwetter nach dem anderen / es half mir flussabwärts / die Syntax entlang / alles auf einmal zu tragen und zu wissen“.

Der prosanahe Ton dieser Gedichte mag auch damit zu tun haben, dass Marica Bodrožić bisher vor allem als Autorin von Romanen und Erzählungen hervorgetreten ist. Ähnliches könnte man bei Judith Zander (geb. 1980) erwarten, die mit ihrem ersten Roman vergangenes Jahr gleich auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geraten war. Doch ihr erster Gedichtband „oder tau“ macht von Anfang an deutlich, dass hier eine originäre Lyrikerin am Werk ist. Spröde wirken diese Verse, unnahbar, und fast widerspenstig entziehen sie sich dem geradlinigen Dahinlesen. „meine hand ist ein toter fisch morgens / auf deiner Brust treibt er / seitlings die nacht flog / ein fischreiher auf“. So beginnt das Gedicht, das dem Band den Titel gibt, und es zeigt sogleich die „Technik“ dieser Dichtung: Die fehlende Interpunktion sowie die gekonnte Technik der Enjambements sorgen dafür, dass die einzelnen Sätze ineinander fließen, sich ineinander verhaken, ja, sich förmlich oft um ein Wort streiten.

Mitunter erinnert dieses Hin und Her zwischen den „Gelenkstellen“ Versende und Versanfang an die DJ-Technik des Scratchens, aus dem Vor und Zurück entstehen neue Sinn- und Satzverbindungen, die das Bedeutungsspektrum des Gedichts aus der Linearität herauskatapultieren und gleichsam dreidimensional erweitern. „das jahr ist erledigt wir geben acht / tage zu ohne sicht / bare sonne ein wintergeld wetter / gebärdet sich unerhört gleich /einem seine taubheit aufs äußerste ausreizenden / kind vertändelt den frischen kalender zupft / lustvoll ab zahl um zahl und raschelt / bereits in den letzten blättern des märz“.

Versuch, vergangene Erfahrungen unverstellt zu evozieren

Auch Nora Bossong (geb. 1982) ist in Prosa und Poesie gleichermaßen zu Hause. Und doch wirkt ihr zweiter Gedichtband deutlich reifer, tiefer, kunstvoller als die Produkte der beiden Kolleginnen. Das mag auch damit zu tun haben, dass man einen Großteil der Gedichte ohne die von der Autorin beigefügten Anmerkungen allenfalls rudimentär verstehen würde. Bossongs Gedichte sind vollgesogen mit Geschichte, und sie versteht es grandios, binnen weniger Verse jahrzehnte- oder auch jahrhundertealte Vergangenheit und Gegenwart ineinanderlaufen zu lassen.

„Ins Klirren der Kirchen, Klingeln der Trams / schaukelt der Körper vom Dach einer Tanke, / plustert sich auf in der Hitze, ein stinkendes Pendel. / Wir stehen dabei, Jahrzehnte zu spät, / zeitlich verzogen / unser Blick zur Traufe, und jetzt landen Möwen / auf dem balzheißen Bau, ein Gurren, ein Flattern.“ Mit diesen Versen beginnt das Gedicht „Duce“, in dem zwei Mailand-BesucherInnen imaginär noch einmal „dahergelaufene Zeugen“ der Zurschaustellung des von Partisanen getöteten Mussolini werden. Überhaupt sind viele von Bossongs Gedichten in Italien angesiedelt, und so manchen Leser mag das katholische Setting des titelgebenden Zyklus ein wenig verstören – zum Ausgleich gibt’s immerhin ein Kapitel mit dem Titel „Im Protestantenland“. Aber mit welch souveräner Beiläufigkeit und lyrischen Prägnanz hier eine päpstliche Porträtreihe entworfen wird, zeugt von großem Mut und einigem Selbstbewusstsein.

Damit aus diesen eigenwilligen Gedichtbänden tatsächlich so etwas wie ein „Fräuleinwunder“ wird, müssten sie jetzt nur noch die Beststellerlisten stürmen – das wäre dann allerdings wirklich ein Grund, an Wunder zu glauben.

Marica Bodrožić: „Quittenstunden“. Otto Müller, Salzburg 2011, 86 Seiten, 18 Euro ■ Nora Bossong: „Sommer vor den Mauern“. Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, München 2011, 96 Seiten, 14,90 Euro ■ Judith Zander: „oder tau“. dtv, München 2011, 98 Seiten, 11,90 Euro