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Archiv-Artikel

Ein bisschen wie bei Shakespeare

TABU Auch unsere eigentlich aufgeklärte Gesellschaft hat ein Problem mit der Lust im Alter. Gerade in der Pflege ist Sexualität ein heißes Eisen, das nur zögerlich angefasst wird

VON BIRK GRÜLING

Ein bisschen wie bei Shakespeare, nur eben in Niedersachsen. 20.000 Einwohner im Ort, die Vorgärten sind akkurat, jeder kennt hier jeden. Julia ist Mitte 70. Ihre Augen funkeln, wenn sie spricht. Ihre Dauerwelle wippt, wenn sie lacht. Gerne sitzt sie am Fenster ihres kleinen Zimmers im Seniorenheim. Von dort kann sie das Reihenhaus von Romeo sehen. Ein Witwer, Anfang 80. Sonntags trägt er immer einen abgewetzten Anzug. Seit Monaten treffen sich Romeo und Julia, die ihre Namen nicht in der Zeitung lesen wollen. Wenn er aus der Haustür tritt, winkt sie vom Fenster. Stundenlang sitzen sie dann im Garten, halten Hände, schauen sich in die Augen. Oft verbringen sie die Nacht zusammen. Die Nachtwache weiß dann Bescheid. Wenn Romeo da ist, gehen die Pfleger leise am Zimmer vorbei und klopfen nicht. Des Dramas dritter Akt: Der Sohn erfährt von der späten Liebe der Mutter. Er ist entsetzt. Der Vater ist erst fünf Jahre tot und überhaupt! Intimität in diesem Alter. Kopfschüttelnd stand er im Büro, erzählt die Heimleitung.

Sexualität im Alter ist ein gesellschaftliches Tabu. Daran hat auch die freie Liebe der 68er wenig geändert. „Lust im Alter wird gerade von Jüngeren als befremdlich empfunden. Die Vorstellung, dass die Eltern oder gar Großeltern ein reges Sexleben haben, ist für sie komisch“, sagt die Medizinpsychologin Beate Schultz-Zehden. Während 20-Jährige denken, mit 50 Jahren sei Schluss, haben die 60-Jährigen noch Lust, wie eine Umfrage des Leipziger Psychologen Elmar Brähler 2006 zeigte. Etwa 40 Prozent der Befragten zwischen 61 und 75 Jahren bezeichneten sich als sexuell aktiv.

Im großelterlichen Schlafzimmer rücken Händchen halten, körperliche Nähe beim Einschlafen als Versicherung, dass der andere da ist, in den Fokus. So zeigte eine Studie des Instituts für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Rostock, dass die Zufriedenheit mit der eigenen Intimität bei Senioren eher zunimmt, obwohl sich die sexuelle Aktivität verringert. „Bei den Mittsechzigern spielt Sexualität noch eine große Rolle. Partnerwechsel und freie Liebe sind für diese liberal erzogene Generation kein Tabu mehr“, erklärt Schultz-Zehden. So lange die Senioren ein selbstbestimmtes Leben führen, sind diese Ansprüche und Wertvorstellungen auch kein Problem.

Die Seniorenheime sind dagegen kaum auf das Thema Sexualität im Alter vorbereitet. Auch in dem niedersächsischen Pflegeheim stößt die Offenheit schnell an ihre Grenzen. Wegen Julias Liebe kommt es zum Streit zwischen dem Sohn und der Heimleitung. Eine Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs steht im Raum, obwohl die Mutter sich bewusst für die Beziehung entschieden hat. Das Pflegeheim knickt ein, Recht auf selbstbestimmte Intimität hin oder her. Romeo bekommt Hausverbot. Reißerische Artikel in der Zeitung und Gerede helfe niemandem, sagt die Heimleitung heute. Man hatte ja keine Wahl. Doch nicht nur Angehörige tun sich mit Sexualität im Alter schwer.

Auch in der Pflege ist der Umgang mit Sexualität nicht leicht. Immerhin bekommen die Pflegekräfte intime Einblicke in das Leben der Senioren, gerade bei besonders betreuungsintensiven Krankheiten wie Demenz. Sie entkleiden und waschen die Bewohner, lagern sie um. „Patienten mit Demenz können diesen engen Körperkontakt falsch deuten. Sie interpretieren die Pflege als sexuelle Avancen“, erklärt Gerontologin Margret Schleede-Gebert. Sie gibt regelmäßig Seminare zu „Sexualität und Pflege“. Demenz und sexuelle Übergriffe sind ein häufiges Thema. Mit fortschreitender Krankheit schwinden Impulskontrolle und damit die sexuellen Hemmungen. Pflegekräfte und Angehörige haben dann ihrerseits Hemmungen, zu maßregeln oder die Situation offen anzusprechen. „Es gilt, die Pflegekräfte und Angehörigen zu schützen, auch durch klare Regeln und Schulungen“, sagt Schleede-Gebert. Erkannt haben diesen Bedarf längst nicht alle. So werden die Sexualitätsseminare nur zögerlich in Anspruch genommen. Heimleiter sagen oft, erzählt Schleede-Gebert, das sei kein Thema in ihrer Einrichtung.

Hans-Jürgen Wilhelm redet gerne von einer Findungsphase. Er sitzt auf der Terrasse des Elisabeth-Alten- und Pflegeheims der Freimaurer und reibt sich die Hände. „Wir nähern uns ohne Scheuklappen der Sexualität unserer Bewohner und stellen uns auf die individuellen Bedürfnisse ein“, sagt der Heimleiter. Die Einrichtung liegt inmitten eines Hamburger Szenebezirks. 174 Plätze, sechs Doppelzimmer für Paare. Altbau mit Stuck an der Decke. Letztes Jahr fand hier eine Tagung zur Sexualität im Alter statt. In Hamburg könne man so etwas veranstalten, sagt er. In katholischen Regionen wäre das schwieriger. Ist schon eine Konferenz ein großer Erfolg? Wilhelm zuckt die Schultern, reibt sich die Hände, das Thema ist heikel. Ein paar Dienstanweisungen reichen nicht aus. Bei Aufnahmegesprächen mit neuen Bewohnern kann der Heimleiter nach der Vorliebe für Nudeln oder Kartoffeln fragen, aber kaum nach den sexuellen Bedürfnissen. Eine Atmosphäre des Vertrauens will der promovierte Soziologe schaffen, eine, die es ermöglicht, offen über Sexualität zu sprechen. Sensibilisieren bei Bewohnern, Mitarbeitern und Angehörigen. Es gibt keinen Stein der Weisen, Ansätze schon. Im Elisabeth Seniorenheim klopfen die Pfleger an und warten auf Antwort. Natürlich gibt es Bewohner, die nicht antworten können. Natürlich gibt es Auflagen. Die Nachtwache muss nach den Bewohnern sehen. Wilhelm spricht wieder von individuellen Lösungen. Ein Paar, das in der Einrichtung lebt, schläft am Sonntag gerne lange. Eng aneinander gekuschelt, oft bis zum Mittagessen. Das Frühstück kann warten, genau wie die Pfleger.